„Die Frage, wie wir in Europa mit den Umwälzungen unserer Zeit umgehen, ob wir Objekte oder Subjekte der Veränderung sind, entscheidet sich nicht zuletzt darin, mit welcher Haltung, aber auch mit welchem Rüstzeug wir in die Zukunft gehen“, schreibt Dr. Ingrid Hengster, Mitglied des Vorstandes der KfW Bankengruppe, in ihrem Essay zu unserer Artikelserie „Europa kann besser werden. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde. „Ein Kontinent, der sich seiner Stärken bewusst ist, wird auch künftig in der Lage sein, die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen und innovative, kreative Lösungen für die bevorstehenden Herausforderungen zu finden.“
Als die Europäische Union im Oktober 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, sprach das norwegische Nobelkomitee von der EU als einer „Bruderschaft zwischen den Nationen, die über sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen habe.“ Was sich heute wie die Beschreibung einer wahr gewordenen Utopie liest, entsprach schon zu seiner Zeit nicht ganz der Wirklichkeit, schwelte doch damals bereits der tiefe Streit über den richtigen Weg aus der Staatsschulden- und Währungskrise, der die Union bis heute in Atem hält. Die Diskrepanz zwischen einem erstrebenswerten Idealzustand und dem permanenten, oft konfliktbeladenen Interessenausgleich zwischen 27 Nationalstaaten ist konstitutiv für die EU. Die Krise ist ihr gewissermaßen in die Wiege gelegt.
Die aktuelle Situation hat jedoch eine besondere Qualität. Nie zuvor stand das europäische Projekt so unter Druck. Von außen fordern autoritäre Systeme wie China und Russland das politische und wirtschaftliche Modell der liberalen Demokratie heraus. Im Inneren leidet die EU an einer Legitimitätskrise. Vielen gilt sie inzwischen als ein intransparenter Moloch mit unersättlichem Machtanspruch. Großbritannien hat sich bereits entschieden, die Union zu verlassen. Über die Bewältigung der Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise ist die Beziehung zwischen den Ländern des Nordens und des Südens zum Teil tief gestört. Unter den Mitgliedern tun sich neue politische Gräben über Fragen der Rechtstaatlichkeit und der Grundfreiheiten auf.
Die Herausforderungen sind also gewaltig, aber anders als viele meinen, blicken die meisten Europäer optimistisch in die Zukunft. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz hatte also gute Gründe, als er Ende Januar 2019 in einem Interview forderte, Europa müsse wieder zu einem „Kontinent der Zuversicht“ werden. Er verwies darauf, dass die Europäische Union mit ihren mehr als 500 Millionen Bürgern ein Viertel der Weltwirtschaftsleistung erbringe und einer der größten Geldgeber bei der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe sei. Wir EU-Bürger genießen wie selbstverständlich die Errungenschaften eines geeinten Europas, ohne die unser Leben komplizierter, teurer, unsicherer und uninteressanter wäre: Reise- und Zollfreiheit, Freizügigkeit bei der Wahl des Studien- oder Arbeitsplatzes oder die Sicherheit von Sozial-, Verbraucher- und Umweltstandards.
Der unbestreitbare Erfolg der Europäischen Union beruht auf zwei Säulen, die für die Lösung der aktuellen Probleme wichtig sind und die wir uns deshalb wieder stärker ins Bewusstsein rufen sollten: die Anerkennung ihrer Vielfalt und die Bereitschaft zur fortwährenden Erneuerung. Beides sind Stärken, auf die sich Europa jetzt besinnen muss. Der Schlüssel dazu liegt ganz besonders in der Bildung, die neben Kenntnissen und Fertigkeiten auch soziale Kompetenzen vermittelt. Die Voraussetzungen dafür sind gut.
Europa ist nach wie vor eine der innovativsten Regionen der Welt. Seine Universitäten und Forschungseinrichtungen genießen einen hervorragenden Ruf. Vor allem die akademische Bildung in der Breite ist hervorragend aufgestellt. Die Europäische Union verfügt mit Programmen wie Erasmus, Erasmus plus, dem Europäischen Forschungsraum oder Horizont 2020 über ein gut ausgestattetes Instrumentarium zur Förderung von Bildung und Innovation. Auch das betriebliche Ausbildungssystem vor allem in den Ländern Mitteleuropas ist von hoher Qualität und hat weltweit Vorbildcharakter.
Aber das Bild ist nicht ungetrübt. Allen Anstrengungen der Politik zum Trotz leidet das Bildungssystem in Europa, nicht zuletzt das deutsche, unter chronischer Unterausstattung und strukturellen Problemen. Noch immer ist es nicht gelungen, den Bildungserfolg junger Menschen von ihrer sozialen Herkunft zu entkoppeln und die wirkmächtigen Geschlechter-Stereotype zu überwinden, die viele Mädchen und Frauen daran hindern, einen technischen Beruf zu ergreifen oder ein naturwissenschaftliches Studium zu absolvieren. Forschergeist, Veränderungsbereitschaft, Kreativität und das Streben nach Bildung haben unseren Kontinent geprägt. Wenn Bildung einer der Schlüssel zur Bewältigung der vor uns liegenden Herausforderungen ist, dann ist es ein Gebot der Vernunft, dieses Erbe gemeinsam zu nutzen. Hierzu seien einige Handlungsansätze angerissen.
1. Verstärkte Investitionen in unsere Bildungssysteme
Es ist an der Zeit, unser Bildungssystem so auszustatten, wie es seinem Stellenwert zukommt. Gerade in Deutschland gibt es viel zu tun. Schon seit vielen Jahren kritisiert die OECD, dass Deutschland gemessen an seiner Wirtschaftsleistung weniger in Bildung investiert als andere Länder. Mit 4,2 % seines Bruttoinlandsprodukts erreichen die Bildungsinvestitionen nicht einmal den OECD-Durchschnitt von 5,3 %. Wollte Deutschland hier also zumindest das Mittelmaß erreichen, müsste es etwa 30 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich für Bildung aufbringen. Mit dem zwischen Bund und Ländern beschlossenen Digitalpakt ist ein wichtiger Schritt hin zu einer zeitgemäßen Ausstattung der Schulen getan.
Der kommunale Investitionsrückstand bei Schulen und Kinderbetreuung betrug im Jahr 2018 nach einer Untersuchung von KfW Research über 55 Milliarden Euro. Die KfW selbst leistet hier mit ihren Förderprogrammen für Kommunen einen wichtigen Beitrag. Zudem gilt es, den Mangel an qualifizierten Lehrer/innen und Erzieher/innen entschlossen zu beheben. Dazu müssen die Berufsbilder in Erziehung und Bildung deutlich aufgewertet, attraktiver ausgestattet und weiter professionalisiert werden. Auch auf europäischer Ebene kann mehr getan werden, etwa indem die Mehrsprachigkeit konsequenter gefördert wird. Die Mitgliedsländer der EU haben sich auf das Ziel geeinigt, dass jeder Europäer mindestens zwei Fremdsprachen beherrschen solle. Hiervon sind wir noch ein gutes Stück entfernt. Was spricht z. B. dagegen, regelmäßige Auslandsaufenthalte als festen Bestandteil in den weiterführenden Schulen zu etablieren? Hierfür wäre es notwendig, sie konzeptionell in die schulischen Curricula einzubinden und entlang der Lehrpläne zu gestalten.
2. Weitere Förderung der Spitzenforschung
Spitzenleistungen in der Forschung sind Ausgangspunkt innovativer Lösungen für die epochalen Probleme unserer Zeit und ein zentraler Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft. Wenn Europa auch künftig seine Position halten und nach Möglichkeit verbessern will, müssen die Rahmenbedingungen für Spitzenwissenschaftler in Europa weiter verbessert werden. Hier haben Europa und auch Deutschland schon einiges vorzuweisen, Erfolge wie die Entwicklung eines zuverlässigen und weniger belastenden Bluttests für Brustkrebs bei jüngeren Frauen an der Universitätsklinik Heidelberg im Februar 2019 sollten uns weiter anspornen.
Ein höheres Maß an Exzellenz ist mit einer konsequenten Ausrichtung an klaren Leistungskriterien und einer entsprechenden finanziellen Ausstattung erreichbar. Die Exzellenz-Strategie des Bundes und der Länder ist hierfür ein wichtiger Schritt.
3. Annäherung von Wissenschaft und Gesellschaft
In den vergangenen Jahren haben sich Wissenschaft und Gesellschaft zunehmend voneinander entfernt. In Teilen der Gesellschaft erodiert das Verständnis für wissenschaftliches Denken, es wächst Misstrauen gegenüber der Wissenschaft. Ohne sie sind aber die Probleme des Klimawandels, der Digitalisierung oder der Migration nicht zu bewältigen. Wissenschaft braucht gesellschaftliche Akzeptanz und Legitimität. Deshalb sollte sie sich stärker nach außen öffnen. Wissenschaftler sollten dort stärker präsent sein, wo relevante gesellschaftliche Projekte diskutiert werden; hier gibt es bereits positive Ansätze, die weiterverfolgt und ausgebaut werden sollten: So leistet die Initiative »Wissenschaft im Dialog« des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft mit ihren Veröffentlichungen und Veranstaltungen einen wertvollen Beitrag. Sie verdient breite Unterstützung. Auch die „Wissenschaftsmärkte“, bei denen Universitäten und Institute in deutschen Städten den Kontakt zu den Bürgern suchen, oder die an vielen Hochschulen angebotenen „Kinderunis“ sind ein guter Ansatz. Ein Raum für die Begegnung von Wissenschaft und Gesellschaft könnte auch der Arbeitsplatz sein: Unternehmen könnten wissenschaftliches Denken oder die Begegnung mit Wissenschaftlern verstärkt in ihre Fort- und Weiterbildungsangebote und internen Dialogformate integrieren.
4. Mehr voneinander lernen
Der im Management angewendete „Best Practice“-Ansatz lässt sich durchaus auf Europa übertragen. Jedes Land hat aus seiner Geschichte heraus spezifische Methoden entwickelt, um Probleme zu lösen. Deshalb sollten wir uns unvoreingenommen an Erfolgsmodellen anderer Länder orientieren. Aus den Erfolgen skandinavischer Länder in der Bildungspolitik lassen sich auch anderswo Lehren ziehen. Und warum sollten wir uns nicht vom französischen Bildungssystem inspirieren lassen, dessen hochentwickelte und flächendeckende Écoles maternelles schon den Drei- bis Sechsjährigen Grundlagen der Sozialisation vermitteln und sie an wichtige Kulturtechniken heranführen? Umgekehrt könnten sich andere Länder an der dualen Berufsausbildung orientieren, wie sie in Deutschland und Österreich so erfolgreich praktiziert wird.
Das Thema Europa sollte stärker den öffentlichen Diskurs bestimmten. Hierzu brauchen wir stärkere Impulse aus dem Kreis der Intellektuellen. Ihre Aufgabe wäre es, die Debatte über den europäischen Prozess anzuführen. Am 25. Januar 2019 haben sich z. B. 30 bedeutende Schriftsteller als »europäische Patrioten« in der französischen Zeitung „Libération“ dem Aufruf Bernard-Henri Lévys angeschlossen, die Einheit Europas gegen die Anfechtungen des nationalen Egoismus zu verteidigen. Es ist schade, dass dieser Aufruf bislang nur ein geringes Echo gefunden hat. Hier wären auch die Medien gefordert, solchen Initiativen mehr Raum zu geben.
Europa: Kontinent der Zukunft
Der Glaube an die Gestaltbarkeit einer offenen, demokratischen Gesellschaft gehört zum historischen Erbe Europas. Die Frage, wie wir in Europa mit den Umwälzungen unserer Zeit umgehen, ob wir Objekte oder Subjekte der Veränderung sind, entscheidet sich nicht zuletzt daran, mit welcher Haltung, aber auch mit welchem Rüstzeug wir in die Zukunft gehen. Für beides ist eine fundierte Bildung elementar.
Ein Kontinent, der sich seiner Stärken bewusst ist, wird auch künftig in der Lage sein, die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen und innovative, kreative Lösungen für die bevorstehenden Herausforderungen zu finden. So kann Europa nicht nur zum Kontinent der Zuversicht, sondern auch zum Kontinent der Zukunft werden.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Dr. Ingrid Hengster:
Nach einem Studium der Rechtswissenschaft und der Promotion zum Dr. jur. an der Universität Salzburg begann Ingrid Hengster ihre Karriere bei der Commerzbank, für die sie zuletzt als stellvertretende Leiterin die Bereiche Privatisierung und Projektfinanzierung verantwortete. Über Stationen bei der UBS (Leiterin Leveraged Finance and High Yield) und bei der Credit Suisse First Boston (Geschäftsbereichsleitung des Frankfurter Investment Banking) kam sie 2005 zur ABN AMRO, für die sie als Country Executive & Head of Global Clients Germany and Austria sowie als Vorstandsvorsitzende der ABN AMRO Bank (Deutschland) AG tätig war.
Nach der Übernahme des internationalen Firmenkundengeschäfts und des Investment-Bankings der ABN AMRO durch die Royal Bank of Scotland betraute sie diese Anfang 2008 mit der Integration und der Leitung des Geschäfts in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bis März 2014 war sie Country Executive Germany, Austria und Switzerland der Royal Bank of Scotland und Vorstandsvorsitzende der RBS (Deutschland) AG.
Seit April 2014 ist sie Mitglied des Vorstandes der KfW Bankengruppe und für die inländischen Finanzierungen und Umwelt zuständig. Neben ihrer Vorstandstätigkeit bei der KfW hat sie Aufsichtsrats-Mandate bei der ThyssenKrupp AG, der Deutschen Bahn AG sowie der DB Mobility Logistics AG und ist Sachverständige des Verwaltungsrats der Europäischen Investitionsbank. Ingrid Hengster ist Mitglied des Vorstands der Atlantik-Brücke e.V., Mitglied des Beirats der Wirtschaftsinitiative Rhein-Main e.V. sowie des Bankenausschusses der Industrie- und Handelskammer und stellvertretender Sachverständiger des Verwaltungsrats der Europäischen Investitionsbank, Luxemburg. Ingrid Hengster hat viele Jahre Erfahrung im Investment Banking. Sie arbeitete erfolgreich an nationalen wie internationalen Transaktionen in den Bereichen Mergers & Acquisitions, Debt und Equity Capital Markets in den Branchen Medien, Industrie und Telekommunikangsteropawahl
ion.