Am 14. Juni 2018 hatten wir die Ehre, Nobelpreisträger Jean Tirole zu einem Vortrag über “Europe at the Crossroads: Finding a Path towards the common Good” in der französischen Botschaft in Berlin zu begrüßen.
In ihrer Begrüßungsrede dankte die französische Botschafterin S.E. Anne-Marie Descôtes United-Europe für die Organisation dieser Debatte und stellte Jean Tirole vor. Mit Hinweis auf sein jüngstes Buch „Economics for the Common Good“ unterstrich sie die Bedeutung seiner Arbeit über Bereitstellung und Verwaltung globaler Gemeinschaftsgüter wie nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, Umwelt, Gesundheit und Bildung. Besonders im Hinblick auf die Eurozone betonte sie, dass “Verantwortung und Solidarität, wenn sie angemessen gestaltet sind, sich gegenseitig verstärken”. Sie zog auch eine Parallele zwischen Jean Tiroles Arbeiten über die angemessene sektorale Regulierung und Marktanreize, “die die deutsche und europäische Debatte über die Zukunft der Sozialen Markwirtschaft widerspiegeln”.
In seiner folgenden Lecture beschäftigte sich Jean Tirole mit Europas Suche nach dem Gemeinwohl und was Ökonomen dazu beitragen können.
Im Mittelpunkt seines von der Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld moderierten Vortrags stand die Frage, was nach Jahren der Freiheit und des Friedens schief gelaufen ist in der europäischen Integration. „Da ich aus tiefster Überzeugung Europäer bin, kann ich nicht umhin, mir Sorgen über die Zukunft des europäischen Konstrukts zu machen. ‚Alle glücklichen Familien sind gleich, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich‘ zitierte er aus Tolstois „Anna Karenina“. „Und trotz Anzeichen von Erholung und der laufenden Reformen ist die Europäische Union wirklich eine unglückliche Familie.” Und er fragte: „Wie sind wir an diesen Punkt gekommen? Gibt es eine Zukunft für das europäische Projekt?”
Egal, ob sie sich für nationale Souveränität oder Föderalismus entscheide, so der Nobelpreisträger, können die Europäer ihren Kuchen nicht gleichzeitig haben und essen. Er stimmte mit der Botschafterin überein, dass sich Verantwortung und Solidarität ergänzen. „amit die EU funktionieren kann, müssen die Länder bereit sein, Risiken zu teilen und mehr Souveränität abzugeben, während sie gleichzeitig das europäische Ideal wiederherstellen und dadurch vereint bleiben. „Wir könnten entweder weitermachen wie bisher, indem wir versuchen, die Maastricht-Regeln anzupassen und funktionsfähig zu machen, oder wir können jetzt beschließen, mehr Risiken gemeinsam zu tragen, d. h. uns auf eine Union mit mehr Transfers und der Aufgabe von mehr Souveränitätsrechten zuzubewegen.“
Die Frage ist, ob das politisch machbar ist und wer erreichen möchte, dass Europa mehr ist als eine Gruppe von Nationalstaatendarstellt. Ohne ein Europa à la carte zu unterstützen, in dem die Länder nur das auswählen würden, was ihnen zugutekommt und sich weigern, etwas beizutragen, empfiehlt Tirole, dass diejenigen, die diese Entwicklung vorantreiben wollen, vorangehen, und die anderen nach und nach folgen. „Geht Schritt für Schritt vor und schaut, welche Souveränitätsrechte und Übertragungsmöglichkeiten umgesetzt werden können.“
Es gäbe Modelle, die in sich selbst überzeugen, bis sie in die Hände von Politikern fallen, so Tirole. Und er stellte fest, dass das, was Ökonomen für vernünftig und rational halten, oft weit davon entfernt ist, was Politiker am Ende wollen und auf der Grundlage von Regeln umsetzen. Jean Tiroles Vortrag war ein starkes Plädoyer für ein regelbasiertes Europa. Regelbasiert bedeutet aber vor allem, dass Regeln nicht nur formal überall gleich sein müssen, sondern diese Regeln auch überall gleich verstanden werden müssen.
Er stellte fest, dass wir uns nicht länger hinter dem Schleier der Unwissenheit verstecken können und bezog sich damit auf die Notwendigkeit der Mitgliedsstaaten, Transferzahlungen zu akzeptieren. Aber er argumentierte auch, dass Europa, unabhängig davon, ob die Nationalstaaten bereit sind, diese Transfers zu übernehmen, so bald wie möglich seine Bankenunion durch eine gemeinsame Einlagensicherung (möglicherweise in Verbindung mit der Kanalisierung von notleidenden Altlasten in sogenannten Bad Banks) vollenden sollte, da die Länder ihre Souveränität in Sachen Bankenaufsicht aufgegeben haben.
Um Supermächten wie den USA, China oder Russland zu begegnen, müssen sich Europa und die EU wieder stärker auf ihre eigenen Kräfte und auf sich selbst konzentrieren. Das gescheiterte G7-Treffen müsse ein Weckruf sein. “Wir brauchen Europa mehr denn je, da seine Nationalstaaten allein wenig Gewicht in Handel, Klima, Geopolitik oder anderen Verhandlungen haben”, betonte Tirole. “Europa muss auch mehr Solidarität und ein besseres Ländermanagement fördern. Dazu müssen wir Europäer den Verlust der Souveränität akzeptieren, der mit dem Leben unter einem Dach einhergeht. Und dazu müssen wir uns wieder zusammenfinden und gemeinsam für das europäische Ideal eintreten, was heutzutage keine leichte Aufgabe ist.”
Jean Tirole ist Vorsitzender der Stiftung Jean Jacques-Laffont/ Toulouse School of Economics (TSE) und des Institute for Advanced Study in Toulouse (IAST), Gastprofessor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Mitglied der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS). Der 1953 geborene französische Ökonom erhielt 2014 “für seine Analyse von Marktmacht und Regulierung” den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.
Wir danken I.E. Anne-Marie Descôtes, Botschafterin von Frankreich, für ihre großzügige Gastfreundschaft!