Can Dündar ist einer der prominentesten und – in jeder Beziehung – ausgezeichnetsten türkischen Journalisten. Aber er ist nicht stolz darauf. Er würde es vorziehen, nicht so prominent zu sein und lieber gemeinsam mit seiner Frau in seiner Heimatstadt Istanbul leben.
Stattdessen muss er im Exil in Deutschland leben. Weil er seinen Job gemacht hat und die Wahrheit gesagt hat.
Anfang 2015 wurde Can Dündar Chefredakteur der renommierten, oppositionellen, linksliberalen Tageszeitung „Cumhuriyet“. Zuvor schrieb er für verschiedene Zeitungen, veröffentlichte über zwei Dutzend Bücher und produzierte 16 Fernsehdokumentationen.
Am 29. Mai 2015 berichtete er über Munition, die der türkische Geheimdienst 2014 per LKW an islamistische Milizen in Syrien geliefert hat. Präsident Erdogan erhob daraufhin persönlich Anklage gegen ihn wegen des Verdachts der Spionage, verlangte lebenslange Haft und drohte öffentlich damit, dass Dündar einen hohen Preis für seinen Bericht zahlen würde. Er und Cumhuriyets Büroleiter Erdem Gül wurden zu langen Haftstrafen verurteilt. Während des Prozesses entkam Can Dündar knapp einem Mordanschlag. Während er auf die Entscheidung des Obersten Gerichts wartete, beschloss er, nach dem Militärputschversuch im Juli 2016 in Deutschland zu bleiben.
Seitdem lebt er im Exil. Seine Frau wurde der Pass abgenommen, sie darf die Türkei nicht verlassen.
Seitdem unterstützt Dündar die Pressefreiheit in seinem Land, aber auch die Verständigung zwischen Deutschland, Europa und der Türkei. Er schreibt Bücher, hat eine wöchentliche Kolumne in „Die Zeit“ und die türkisch-deutsche Nachrichtenplattform „Özgürüz“ (wir sind frei) gegründet. Er hat fast jede Auszeichnung erhalten, ist ein gefragter Redner und Gesprächspartner, wird aber auch massiv bedroht und steht seit einigen Monaten unter Polizeischutz.
Am Freitag, dem 16. März hatten wir die Ehre, in seinen Büroräumen bei Correctiv! in Berlin eine beeindruckende, informative Lecture über die aktuelle Situation zwischen Europa und der Türkei von ihm zu hören. Nach kurzen Begrüßungsreden des Gründers und Schatzmeisters von United Europe, Jürgen Großmann, und des Geschäftsführers von Correctiv!, David Schraven, gab Dündar einen sehr anschaulichen Einblick, was es bedeutet, von den türkischen Behörden verfolgt zu werden.
Er begann seinen Vortrag mit der Erläuterung der schwierigen Situation von Journalisten in seinem Heimatland Türkei. Seitdem er im Exil lebt, ist er Teil von „Correctiv!“, einer gemeinnützigen Plattform für unabhängige investigative Journalisten. Zusammen mit „Correctiv!“ hat er im vergangenen Jahr die zweisprachige Plattform „Özgürüz“ (Wir sind frei) gegründet, die täglich Nachrichten über die Türkei in deutscher und türkischer Sprache veröffentlicht. In der Türkei gibt es keine Informationen mehr von den Mainstream-Medien. Özgürüz ist eine der wenigen unabhängigen Nachrichtenredaktionen, die noch immer in der Türkei aktiv sind; da die Türkei „Özgürüz“ blockiert hat, werden die Inhalte dort nun über soziale Medienkanäle verbreitet.
Das Fehlen von Mainstream-Medien und der Mangel an unabhängigem freiem Journalismus erzeugen ein sehr verzerrtes und seltsames Bild über das Land. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 wurden Zehntausende Menschen verhaftet, mehr als 1.200.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes entlassen, ein Viertel aller Staatsanwälte und Richter suspendiert und über 150 Journalisten inhaftiert. Über die Prozesse gegen die Meinungs- und Pressefreiheit schreibt zurzeit jedoch kein Medium. Und die Öffentlichkeit scheint das nicht sonderlich zu kümmern.
Can sprach auch über sein Leben in seinem geliebten Istanbul. Dort lebte er früher im asiatischen Teil der Stadt, während sein Büro auf der europäischen Seite lag. So pendelte er täglich zwischen Europa und Asien. Jeden Morgen, wenn er die Bosporusbrücke überquerte, verließ er einen Kontinent und erreichte einen anderen, vorbei an einem Schild mit der Aufschrift: „Willkommen in Europa“.
Die Verhandlungen zwischen der Türkei und der EU zur Mitgliedschaft begleiten ihn nun sein ganzes Leben lang.
1959, zwei Jahre vor Cans Geburt, beantragte die Türkei erstmals den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
Der erste Partnerschaftsvertrag wurde unterzeichnet, als er in den Kindergarten ging.
Als die Türkei die Vollmitgliedschaft beantragte, hatte er gerade sein Studium abgeschlossen.
Als das Abkommen über die Zollunion in Kraft trat, war er frisch verheiratet und bereitete sich darauf vor, Vater zu werden.
Als die Europäische Union die Türkei als Beitrittskandidat aufnahm, war sein Sohn im Kindergarten; als er in der Grundschule war, begannen die Verhandlungen.
Heute, zu einer Zeit, in der sein Sohn die Universität beendet hat, sind wir wieder ganz am Anfang, so Can. „Die jahrelangen halbherzigen Verhandlungen werden nun ausgesetzt. Ich habe ein ganzes Leben gelebt, und sind kinen Zentimeter weitergekommen. Weder war die EU bereit, die Türkei in die Familie aufzunehmen, noch hat sich die Türkei wirklich um einen Beitritt bemüht. Möglicherweise hätten sich beide gebraucht, aber sie fanden sich nicht besonders attraktiv. Und diese zögerliche Werbung, die sich über fast sechs Jahrzehnte hinzog, ist nun zu einem Ende gekommen.“
Nach fast sechs Jahrzehnten Verhandlungen und islamistischen Kräften, die immer mehr Einfluss gewinnen, ist seine Hoffnung verschwunden. Bei den heutigen Verhandlungen gibt es keine Fortschritte, die Türkei hat sich isoliert. „2017 war das schlechteste Jahr in der Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen“, sagte er. „Und es sieht nicht so aus, als würde 2018 besser werden.“
Can gab einen ausgezeichneten, ausführlichen Überblick über die historischen Entwicklungen in der Türkei im 20. HJahrhundert. Er erklärte die Atatürk-Zeit sowie den anhaltenden Machtkampf zwischen militärischen und islamistischen Kräften. Bis heute geht der Kampf mit regelmäßigen Militärputschen und islamistischen Terroranschlägen weiter.
Darüberhinaus erklärte er brillant die komplexe Beziehung zwischen Fetullah Gülen und Präsident Erdogan. Vor einigen Jahrzehnten unterstützte Gülen Erdogan, um an die Macht zu kommen. Dann verließ Gülen die Koalition. Heute sind Erdogan und Gülen Feinde.
Dann stellte Can seine Ansichten über den „schmutzigen Deal“ zwischen der Europäischen Union und Erdogan über Flüchtlinge in den Jahren 2015/2016 vor. Er erhielt Papiere, die das Zustandekommen des Abkommens sehr genau dokumentierten; darüber hinaus hat er viel dazu recherchiert. Can selbst war damals im Gefängnis. Er zitierte aus den Verhandlungen zwischen Jean-Claude Junker und Donald Tusk als Vertreter der EU und Präsident Erdogan. Can ist überzeugt, dass Erdogan die EU erpresst und mit Flüchtlingsdrohungen in die Knie gezwungen hat. Er argumentierte, dass das Flüchtlingsgeschäft schmutzig sei und Erdogan – in Verbindung mit dem letzten Staatsstreich – mächtiger als je zuvor gemacht habe. Es gab ihm sogar die Möglichkeit für die Ausrufung des Ausnahmezustands.
Can ist überzeugt, dass Präsident Erogan derzeit mehr Macht hat als Atatürk je zuvor. Gülen ist ebenfalls gefährlich. Mitglieder der größten Oppositionspartei sind im Gefängnis. Heute gibt es keine ernsthafte Opposition gegen Erdogan mehr; er regiert das Parlament, die Polizei, das Militär, die Medien und die Wirtschaft. Die nächsten Wahlen finden im September 2019 statt. Dündar hält es für möglich, dass Erdogan versucht, die Wahlen früher abzuhalten, um die letzten Militärschläge und seine Popularität für militärische Stärke im Krieg zu nutzen. Can ist aufgrund des Flüchtlingsabkommens mit der EU überzeugt, dass kein EU-Mitgliedstaat die Stimme für eine moderne, demokratische Türkei erhebt.
Und Präsident Erdogan will den Europäern zeigen, dass er Alternativen hat. Jetzt ist er näher an Russland, einem Land, das früher ein ernsthafter Feind war.
„Heute ist in der Türkei keine Begeisterung mehr für Europa“, sagte Dündar.
Er bedauert, dass Deutschland keine klare Vision auf die deutsch-türkischen Beziehungen hat. Die neue Regierung müsse nun eine neue Strategie für den Umgang mit der Türkei entwickeln. In Cans Augen ist Deutschland zu sehr auf Erdogan fokussiert. Aber die Hälfte des türkischen Volkes leidet und ist gegen Präsident Erdogan. Deshalb sollte sich Deutschland auf einen Dialog mit dem demokratisch gesinnten türkischen Volk konzentrieren, um die Beziehungen des zivilen Sektors (z.B. Theater, NGO-Kooperationen, Austausch usw.) zu stärken. Zum Publikum sagte er: „Wenn Sie in der Türkei investieren wollen, sollten Sie nach Rechtsstaatlichkeit fragen und darauf bestehen.“
Can rief dazu auf, den Dialog zwischen Europa und der Türkei fortzusetzen. Auf die Frage, was es heißt, Europäer zu sein, antwortete er: „Europäische Werte bewahren, Menschenrechte, Redefreiheit, Säkularismus usw. zu respektieren – das ist es, was wir in der Türkei brauchen“. Er schloss: „In der Türkei könnten wir ohne Demokratie leben, aber wir können nicht ohne Rechtsstaatlichkeit leben.“
Eine Rechtsstaatlichkeit, die es in der Türkei zurzeit nicht gibt. Mitte März wurde angekündigt, dass Dündar in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden soll. Der Oberste Gerichtshof in Ankara hob ein früheres Urteil gegen ihn auf und fordert nun, dass die Anklage der Spionage zu der Straftat hinzukommen soll. Ziel ist es, eine höhere Strafe von 15 bis 20 Jahren zu verhängen.
Wir danken Correctiv! für die Gastfreundschaft und Can Dündar für seine Zeit.
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