Warum breitet sich der Populismus in den Gesellschaften Europas, der Vereinigten Staaten und Japans aus? Zu Beginn der Eröffnungsdebatte des Young Professional Seminars über “The Populist Challenge” vom 6. bis 8. Oktober in Hamburg wies Olaf Scholz auf wohlhabende Länder wie Dänemark, Österreich, die Niederlande oder Deutschland hin, die derzeit keine großen sozialen oder wirtschaftlichen Probleme haben. Doch in vielen Haushalten der Mittelschicht stagniere das Einkommen. Das nährt laut einer Studie der Consulting-Firma McKinsey Populismus. „In unseren industrialisierten Gesellschaften geschieht etwas, das wir zur Kenntnis nehmen müssen“, sagte Scholz.
Selbst erfolgreiche Unternehmen verlangten von ihren Beschäftigten, dass sie Lohnsenkungen hinnehmen, sagte Scholz. Er zitierte den ehemaligen US-Vizepräsidenten Joe Biden, der 2016 auf dem World Economic Forum in Davos vor der Gefahr eines Zusammenbruchs der liberalen internationalen Weltordnung warnte, weil die Mittelschicht in den westlichen Gesellschaften schrumpft.
Um die europäische Integration zu sichern, fügte Scholz hinzu, sei es absolut notwendig, nicht nur den Gewinnern der Globalisierung eine gute Zukunft zu sichern, sondern auch den Menschen, deren Fähigkeiten durch die Digitalisierung bedroht seien. Es sei wichtig, eine optimistische Perspektive zu haben und den Leuten Hoffnung zu geben. „Wir brauchen eine Partei, die Liberalismus und soziale Wohlfahrt verbindet“, sagte der Erste Bürgermeister von Hamburg.
„Unsere große Aufgabe ist es, eine Antwort auch für diejenigen zu finden, die nicht qualifiziert sind”, sagte Scholz. Ansonsten würden sich die Menschen politischen Parteien zuwenden, die mittels einer Rückkehr in die Vergangenheit einfache Lösungen versprechen. „In Hamburg sind wir sehr für selbstfahrende Autos”, erklärte er, „aber wir müssen auch daran denken, was das aus der Sicht eines LKW-Fahrers bedeutet.“
Kai Diekmann begann mit einer Allegorie über das Wetter: Die reale Temperatur unterscheide sich oft von der vom Menschen gefühlten. Populismus, sagte er, habe keine offensichtlichen ökonomischen Ursachen. Stattdessen gehe es mehr um Identität und Erwartungen. „Es ist wichtig, den Menschen Lösungen anzubieten, wie man in der Globalisierung und Digitalisierung besteht. Man muss ihnen positive Zukunftsperspektiven bieten – nicht eine Rückkehr in die Vergangenheit”, erklärte Diekmann.
In jedem Land haben Menschen andere Gründe, für Rechtsparteien zu stimmen, sagte Diekmann. Ungarn, Polen, Österreich und das Vereinigte Königreich seien alle sehr unterschiedlich, auch wegen der Führungspersönlichkeiten der jeweiligen Parteien, die eine große Rolle spiele. In Bezug auf Deutschland sei er daher optimistisch, da die Alternative für Deutschland (AFD) keine charismatischen Anführer habe.
Ein weiterer Faktor sei die Sorge, die Kontrolle über die Einwanderung verloren zu haben, sagte Diekmann. In Deutschland funktioniere schon die Integration der türkischen Einwanderer seit mehreren Jahrzehnte nicht. Bundeskanzlerin Angela Merkels Motto in der Flüchtlingskrise von 2015, „Wir schaffen das“, sei deswegen nicht sehr glaubwürdig gewesen. Diekmann bekannte, dass die BILD Zeitung unter seiner Leitung damals die Situation ebenfalls falsch interpretiert habe. Ihre Kampagne „Wir helfen“ sei den Empfindungen der Menschen nicht gerecht worden.
Mit Blick auf die außergewöhnliche Situation 2015 räumte Scholz ein, es sei unglücklich gewesen, die Kontrolle über die Einreise nach Deutschland zu verlieren. Dennoch gebe es Fortschritte bei der Integration von Migranten. In Hamburg beende jedes dritte Kind mit Migrationshintergrund die Schule mit dem Abitur.
Insgesamt seien die Ursachen und Probleme des Populismus vielfältig und abhängig von den Regionen, der Bildung, der Identität, den Erwartungen sowie den Positionen der etablierten demokratischen Parteien. In Polen beispielsweise sei Jaroslaw Kaczynski stark, weil die Opposition schwach sei, sagte Diekmann. Der gemeinsame Feind aller Populisten seien die Eliten, das politische Establishment und die Technologie. Die Populisten seien vereint in der Sehnsucht nach einer glorreichen, schönen Vergangenheit, die es nie gegeben habe.
Auch die Medien spielen eine wichtige Rolle beim Aufbau rechtsgerichteter Parteien wie der AfD in Deutschland, indem sie sie dämonisieren, wie Diekmann ausführte. Aber es sei nicht die Aufgabe von Journalisten, Populisten anzugreifen; das müssten andere Politiker leisten. Die Medien sollten Parteien wie die AfD am besten so normal wie möglich behandeln und sie inhaltlich herausfordern. Ansonsten würden Journalisten es Populisten zu einfach machen, die Eliten und die Medien über einen Kamm zu scheren und sie als Feinde zu bezeichnen.
Nach über einer Stunde und einer sehr lebhaften Debatte war eine der letzten Fragen an Scholz gerichtet: Ob er überhaupt etwas Positives am Populismus sehe? „Nein“, antwortete der Sozialdemokrat. „Einfache Antworten auf die komplexen Herausforderungen unserer modernen Welt funktionieren nie, und Populismus hat nichts mit populär zu tun.“
Der Text ist die Zusammenfassung der Eröffnungsdebatte “Was ist Populismus” mit Olaf Scholz, Erster Bürgermeister der Freien Hansestadt Hamburg, und Kai Diekmann, ehemaliger Herausgeber und Chefredakteur BILD-Gruppe, des Young Professional Seminars von United Europe vom 6. bis 8. Oktober 2017 in Hamburg.