Die Integrationspolitik steckt in der Krise, und zwar nicht nur in Europa. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir grundsätzlich fragen müssen, ob die westlichen Demokratien noch die Vision und die Energie haben, die politische Integration voranzubringen.
Schauen Sie sich die nationalen Debatten über Schottland oder Katalonien an. Oder nehmen Sie globale Themen wie den Handel: Heute muss sich die Welthandelsorganisation sehr anstrengen, um auch nur das bereits existierende Niveau der Integration zu bewahren. In vielen unserer Länder ist der Reflex, die Grenzen wieder hochziehen zu wollen, stärker als früher. Dies trifft die EU besonders hart, da Integration das Schlüsselkonzept ihrer Existenz ist.
Für die Welt ist Integration wichtig; für Europa ist sie überlebenswichtig. 60 Jahre lang ist Europa in den Genuss von außerordentlich positiven Wechselwirkungen zwischen Integration und Demokratie gekommen. Griechenland, Spanien und Portugal sind gute Beispiele dafür, ebenso wie die Länder Mittel- und Osteuropas.
140 Zeichen, zehn Sekunden
Wie kommt es, dass diese Verbindung gerissen ist? Aufgrund meiner vieljährigen politischen Erfahrung auf EU-Ebene und in der Regierung einer europäischen Nation glaube ich, dass das Problem zurückgeht auf die innenpolitischen Veränderungen der letzten fünf bis zehn Jahre. Der Zeithorizont politischer Entscheidungen wird immer kürzer.
Wir überlassen es den weniger demokratischen Nationen, Langzeit-Strategien zu verfolgen. Nehmen Sie nur das Beispiel Chinas, wo man das Jahr 2021, den 100sten Geburtstag der Gründung der Kommunistischen Partei, als kurzfristigen Termin betrachtet. Mittelfristig ist für chinesische Politiker das Jahr 2049, der 100ste Geburtstag der kommunistischen Revolution.
Im Gegensatz dazu wird unsere politische Landschaft zunehmend von Tweets mit einer Höchstzahl von 140 Zeichen und von Fernseh-Spots in zehn Sekunden Länge beherrscht. Diese Formen der Kommunikation wirken wie ein Filter. Manche Ideen passieren den Filter leicht, andere nicht.
Ein Publikum lässt sich in zehn Sekunden verführen, wenn man behauptet, die Flüchtlingskrise würde dazu zwingen, die Grenzen zu schließen. Versucht man aber die langfristigen und indirekten Wirkungen einer solchen Entscheidung zu erklären, wird es schwieriger. Wann immer Grenzen geschlossen werden, geht es mit dem jeweiligen Land auf Dauer bergab. Aber das zu erklären, braucht Zeit. Wer es in ein oder zwei Minuten schafft, ist schon richtig gut. Im Wettbewerb darum, wer seine Ideen vermitteln kann, stellt langfristiges Denken einen komparativen Nachteil dar.
Ein zynisches und gefährliches Spiel
Dies hat weitreichende Folgen. Früher sahen die nationalen Regierungschefs die Europäische Union als eine Investition an, die im langfristigen Interesse ihres Landes lag. Wenn sich die Regierungschefs heute zum Europäischen Rat versammeln, haben sie häufig überhaupt keine langfristigen Ziele. Wenn sie über Einwanderung oder Haushaltskonsolidierung sprechen, denken sie an die nächste Wahl oder auch nur an die nächste Wahlumfrage, und wie diese die Machtverteilung in ihrer Koalition beeinflussen wird.
Ziegelstein für Ziegelstein wird vom europäischen Bauwerk genommen.
Wenn Premierminister über die EU oder über Brüssel sprechen, sind sie nicht sonderlich positiv. Sie sind noch nicht einmal fair. Jede Regierung, die Schwierigkeiten hat wegen der Krise oder weil sich das jeweilige Land nicht schnell genug an die Globalisierung anpasst, macht die EU für ihr Elend verantwortlich.
Nach meiner Erfahrung tut das jeder am Tisch. Einen aber gab es, der darin noch viel eifriger war als alle andere. Das war David Cameron. Er hat das zynische Spiel, aus innenpolitischem Kalkül mit Europa zu spielen, auf die Spitze getrieben. Er hat das Referendum gestartet, nicht im Interesse Europas, auch nicht im Interesse Großbritanniens, ja noch nicht einmal im Interesse seiner eigenen Konservativen Partei, sondern nur, um seine eigene Position abzusichern. Dieses gefährliche Spiel wurde in einem der seriösesten, gesetzestreuesten und pragmatischsten Länder Europas gespielt. Es ist eine Tragödie für Großbritannien, für die EU und am Ende auch für David Cameron selbst.
Öffentliche Investitionen stärken
Was sind die Schlüsselfragen, auf die wir Antworten finden müssen, um dem zunehmenden Misstrauen der Europäer untereinander zu begegnen? Nach meiner Einschätzung ist es am dringendsten, den Spalt zwischen Nord- und Südeuropa zu überbrücken. Jahr für Jahr wächst hier das gegenseitige Misstrauen. Deswegen möchte ich ein informelles Treffen von Regierungschefs aus dem Norden und dem Süden vorschlagen. Der Norden muss verstehen, dass der Süden Wirtschaftswachstum braucht. Der Süden muss verstehen, dass er bei den Regeln nicht tricksen darf.
Zusammen sollten wir eine Politik erarbeiten, die nach keynesianischen Maßstäben positiv ist, aber die auch von Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble akzeptiert werden kann. Wir sollten ermutigende Pläne schmieden, wie man mit Haushaltsdefiziten so umgehen kann, dass es nicht zu Lasten der nächsten Generationen geschieht.
Wir müssen die öffentlichen Investitionen erhöhen. Dies wird die gesamtwirtschaftliche Nachfrage erhöhen und zugleich den künftigen Generationen nutzen. Das geht, indem wir die Ausgaben für öffentliche Investitionen aus den Defiziten herausrechen. Aber wenn wir das tun, muss den Ländern des Südens klar sein, dass man bei diesen neuen Regeln dann nicht tricksen darf.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass unsere politischen Systeme mehr Ernsthaftigkeit brauchen. Sonst wird Europa auseinanderfallen.
Bitte denken Sie über Ihr eigenes Leben und das Leben Ihrer Kinder nach. Der Normalzustand in Europa war immer von Konflikten und Kriegen zwischen Europäern gekennzeichnet. Die Integration hat uns 60 Jahre Frieden und Wohlstand ermöglicht. Wir können es uns nicht leisten, dass diese Zeit lediglich als eine Episode in die Geschichte eingeht.
Professor Monti hielt diese Rede bei dem 8. Young Professionals Seminar von United Europe, das vom 23.-25. September in der Villa Vigoni am Comer See stattfand.