
„Um den natürlichen Zusammenhalt in Europa zu stärken, muss sich die EU wieder stärker wirtschaftlichen Fragen widmen, deren Nutzen sich dem Bürger unmittelbar erschließt“, schreibt Andreas Treichl, Vorstandsvorsitzender der Erste Group Bank AG, in seinem Essay zu unserer Artikelserie „Europa kann es besser. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde: „Die Entwicklung funktionierender Kapitalmärkte ist dabei das wichtigste Projekt.“
Im Europawahljahr 2019 sind die Fronten klar abgesteckt: Hier die pro-Europäer – gerne auch mit dem Attribut „glühend“ – dort das Gegenlager, die Skeptiker, die Populisten. Macron gegen Salvini, Merkel gegen Orban. Im täglichen Kampf um die Sympathien der Bürger haben beide Seiten schweres Geschütz aufgefahren. Doch die Anhänger der Gegenseite zu überzeugen, wird nicht einmal mehr versucht – es genügt, den Nerv des eigenen Lagers zu treffen, die Sympathisanten zu mobilisieren.
Die Frage ist daher, was uns Europäer eigentlich noch verbindet. Womit kann man der zunehmenden Spaltung entgegenwirken? Auch wenn viele dies nicht gerne hören: In Zeiten von „America First“ fragen auch diesseits des Atlantiks viele zunächst einmal: „Was habe ich davon? Was sind meine wirtschaftlichen Vorteile?“ Und genau hier sollte die Europäische Union ansetzen, wenn es um die Wiederherstellung des natürlichen Zusammenhalts geht. Nur sie verfügt über die notwendigen Hebel, unser größtes Potenzial zu heben: Die Verwirklichung eines tatsächlichen Binnenmarktes. Als Kernelement muss dabei die Entwicklung eines gemeinsamen Kapitalmarktes betrachtet werden.
Obwohl seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl über 60 Jahre vergangen sind, ist die EU noch immer kein richtiger Binnenmarkt. Woran merkt man das? Obwohl wir ein Markt mit mehr als 500 Millionen relativ wohlhabenden Verbrauchern sind, obwohl uns jedes erdenkliche Knowhow zur Verfügung steht, obwohl wir weltoffen und marktwirtschaftlich orientiert sind, gibt es – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – schon seit den 1970er Jahren keine nennenswerten Neugründungen mehr, die es in die Liga der globalen Großunternehmen geschafft haben. In den homogenen Binnenmärkten USA und China scheinen diese Unternehmen dagegen wie Pilze aus dem Boden zu schießen.
Es drängt sich daher die Frage auf, was unsere Unternehmenswelt von der anderer großer Binnenmärkte unterscheidet. Es ist jedenfalls nicht der reine Mangel an modernen Großunternehmen. Wir haben viele davon, auf die wir stolz sein können und die wesentliche Stützen unserer Wirtschaft sind. Und auch die europäische Wirtschaft als Ganzes ist global hervorragend aufgestellt. Was uns fehlt sind nachrückende Wachstumssterne und -sternchen. Also Unternehmen, die das Potenzial haben globale Zugkraft zu entwickeln. Unternehmen mit transformativem Charakter. Wir sollten uns daher fragen, was notwendig ist, damit wieder mehr europäische Unternehmen in diese Liga aufsteigen.
Solche Unternehmen wachsen im digitalen Zeitalter, anders als früher, in extrem hohem Tempo zu globalen Playern heran. Das gelingt dort, wo sie ihr Geschäft am einfachsten skalieren können – wo also der Markt eine kritische Größe hat. Im 20. Jahrhundert wurde das Tempo durch natürliche Faktoren, etwa den Ausbau von Logistik- und Produktionskapazitäten, bestimmt. Diese Hindernisse fallen heute meist weg, wodurch die Nachteile zu kleiner Märkte erst richtig sichtbar werden. Der europäische Binnenmarkt hat zwar keine Zölle, dafür aber einen Wust an gemeinsamen Richtlinien, die einen unkomplizierten gesamteuropäischen Markteintritt erschweren. Jedes Land hat seine eigenen Behörden, Sondervorschriften, Steuern und Sprachen. Brüssel hat notwendige, zusätzliche Bürokratie aufgebaut, aber keine lokale abgeschafft. Kein Wunder also, dass europäischen Newcomern die Motivation, ihr Geschäft zu skalieren, recht schnell verloren geht.
Der europäische Markt ist ein Binnenmarkt-light verglichen mit richtigen Binnenmärkten. Weil Unternehmen nur in letzteren richtige Wachstumsphantasien entwickeln, hat sich auch nur in diesen Ländern eine echte Wachstumsinfrastruktur etabliert. Diese ist so erfolgreich, dass selbst unsere eigenen Wachstumsunternehmen in diese Länder gehen. Und weil das alles so gut funktioniert, sind auch die Investoren bereit, mitzumachen. Während in Übersee und in Fernost die Ersparnisse am Kapitalmarkt landen um die erfolgreichen Wachstumsunternehmen zu finanzieren, landen sie bei uns auf Sparkonten, um in Form von Krediten ausschließlich an möglichst sichere Kunden vergeben zu werden. Denn Risiko ist im Bankgeschäft unerwünscht geworden.
Was folgt, ist eine wachstumshemmende Spirale aus mangelndem Angebot und mangelnder Nachfrage am Kapitalmarkt. Ohne unsere eigenen Apples & Co. fehlen uns die Erfolgsgeschichten, um Investoren an den Markt zu bringen. Dies führt zu einer ausgeprägten Risikoaversion bei privaten Investoren, die nur noch von Politikern übertroffen wird, die diese Haltung dann z.B. im Rahmen der Altersvorsorge für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren: „Kauft lieber keine Risikoanlagen“ heißt in Wahrheit: „Finanziert bitte den Staat und nicht unsere Wirtschaft.“ Entsprechend fließt auch über die klassische Finanzierungsquelle des Kapitalmarktes, den institutionellen Lebens- und Pensionsversicherungen, nur wenig Geld in die Wachstumsfinanzierung. Auf der anderen Seite scheuen viele potenzielle Finanzierungskandidaten die fragmentierten europäischen Kapitalmärkte, weil sie ihnen zu klein, zu teuer, zu illiquide und daher unnötig erscheinen. Lieber konzentrieren sie sich – mangels Wachstumsmotivation – auf das günstigere bankenfinanzierbare Standardgeschäft.
Diese Schwächen sind den maßgeblichen Institutionen auf europäischer Ebene – allen voran der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank natürlich bewusst. Die 2015 berufene Kommission unter Jean-Claude Juncker setzte sich denn auch sofort daran, die Missstände zu beheben, indem sie 2015 unter der Federführung des Briten Jonathan Hill für eine Europäische Kapitalmarktunion sorgen wollte. Die anfängliche Euphorie erlitt schon bald die ersten Risse. Mit dem Brexit-Votum seiner Landsleute sah der britische Kommissar keinen Sinn mehr in seiner Tätigkeit. Und somit wird das einzige EU-Land mit einer tatsächlichen Kapitalmarktkultur die Union verlassen. Die Schweiz, als weiteres Land in Europa mit einem Verständnis für die Wichtigkeit des Kapitalmarktes für Wohlstand, wird der Union nie beitreten. In der Folge passierte das, was man als gelernter Europäer schon oft beobachten musste: Die großen Ideen wurden zusehends weichgespült, bis nur mehr kleine, leicht verdauliche Bauklötzchen übrig waren, die man nun, kurz vor dem Ende der Amtszeit, als „mission accomplished“ präsentiert.
Aber vollendet wurde gar nichts, weil bei dem entscheidenden Thema, dem Ausbau eines dynamischen Kapitalmarktes – auch zulasten der übertriebenen Abhängigkeit von Bankfinanzierungen – keinerlei Veränderung zu verzeichnen ist. Die Stolpersteine sind die gleichen wie bei allen Integrationsbemühungen auf europäischer Ebene. Wenn nicht unbedingt nötig, möchte niemand in Fragen der nationalen Souveränität nachgeben, geschweige denn auf Rechte verzichten. Die Entwicklung der Börsen wird immer nur mitgetragen, so lange das eigene Land profitiert. Große Lösungen hingegen werden auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Eine große Lösung ist aber nötig, damit ein gesamteuropäischer Kapitalmarkt entsteht, der für alle Unternehmenstypen zu einer realen Finanzierungsoption wird. Denn der Kapitalmarkt muss auch den für unsere Wirtschaft so wichtigen kleinen und mittleren Unternehmen zur Verfügung stehen. Gerade für sie können zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten einen enormen Unterschied machen. Um einen globalen Stern zu produzieren, braucht es ein Universum an innovativen, lokalen Sternchen.
Es wird daher ein Kraftakt nötig sein, um der nach den europäischen Wahlen neu bestellten Kommission die Bedeutung des Themas klar zu machen und sie zu überzeugen, die Messlatte beim Thema Kapitalmarktunion höher zu legen. Was eigentlich nicht allzu schwer sein sollte, geht es doch um den Wohlstand der EU-Bürger und damit verbunden um einen für alle spürbaren Wert dieser Gemeinschaft.
An drei wesentlichen Hebeln wird man dabei nicht vorbeikommen:
Ein zentraler Aspekt, bei dem viele Verantwortliche in Europa reflexartig zucken, ist die Frage der Steuersouveränität. Sozusagen die Versinnbildlichung der Souveränitätsfrage in Europa. Machen wir uns nichts vor: Am Kapitalmarkt sind Finanzprofis und private Investoren am Werk. Für diesen Kreis sind Steuern ein zentraler Faktor. Ohne eine gewisse Einheitlichkeit in der Europäischen Union oder zumindest mittelfristiger Konvergenz wird es kein großes Ganzes, sondern nur ein gegeneinander geben.
Das zweite wichtige Thema ist ebenfalls wirtschaftlicher Natur. Mehr Aktivität am Kapitalmarkt muss sich für die Wirtschaftsakteure rechnen. Der Kapitalmarkt ist kein Wohltätigkeitsverein, sondern ist grundsätzlich nutzenorientiert. Es darf keine Incentivierung von Stagnationsfinanzierung auf Kosten von Wachstumsfinanzierung geben. Incentiviert werden sollte die höhere Transparenz der am Kapitalmarkt aktiven Unternehmen. Auch muss die Ungleichbehandlung von Eigen- und Fremdkapital endlich beendet werden. Die Verantwortlichen müssen dabei ein gesundes Augenmaß bewahren, damit es in Europa nicht zu gesellschaftsschädlichen Risikoauswüchsen kommt; man denke an das Schattenbankwesen in China.
Der dritte und vielleicht wichtigste Aspekt betrifft das Risiko in Verbindung mit unserer europäischen Risikoaversion. Wir sollten uns fragen, ob es in Zeiten drohender Altersarmut der heute Aktiven noch vertretbar ist, die gesamtwirtschaftlichen Ersparnisse möglichst ohne Risiko anzulegen. Wir sollten uns fragen, ob wir nicht bereits jetzt an einem Punkt sind, wo ein gesundes Maß an Risikobeteiligung an der Wirtschaft nicht nur vertretbar, sondern moralisch angebracht ist. Viele Wirtschaftstreibende wären bereit, mehr Risiko zu übernehmen. Banken und Versicherungen würden gerne stärker zur Wachstumsfinanzierung beitragen. Dies wird aber derzeit regulatorisch sogar bestraft.
Es bleibt zu hoffen, dass es nicht wieder erst eine große Wirtschaftskrise braucht, um den Handlungsbedarf zu erkennen und die nötigen Fortschritte zu erzielen.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Andreas Treichl:
Andreas Treichl ist Vorstandsvorsitzender der Erste Group Bank AG. Von 1971 bis 1975 studierte er Volkswirtschaft an der Universität Wien. Zwischen 1976 und 1977 absolvierte er Traineeprogamme bei Citibank, Morgan Stanley und Brown Brothers Harriman in New York. Seine Bankkarriere startete er im Jahr 1977 als Kreditanalyst in der Chase Manhattan Bank in New York. Bis 1994 war er in verschiedenen Managementpositionen der Chase Manhattan Bank in Brüssel, Athen und Wien tätig. Im Jahr 1994 wurde er Vorstandsmitglied der Erste Österreichische Spar-Casse und am 1. Juli 1997 dessen Vorstandsvorsitzender. Er führte das Institut nach der Fusion mit der GiroCredit an die Börse.
Unter seiner Führung gelang die Expansion der bis dahin rein lokal agierenden Sparkasse zu einem der führenden Finanzdienstleister in Zentral- und Osteuropa, dessen Geschäftsschwerpunkt bei Privatkunden sowie Klein- und Mittelunternehmen liegt. Er führte den Österreichischen Sparkassensektor zusammen, erreichte einen Abbau der innersektoralen Konkurrenz und stärkte die Kooperation mit dem Ziel einer vereinten, starken Sparkassengruppe. Aus einer lokalen Sparkasse mit 600.000 Kunden vorwiegend in Wien wurde schließlich ein führender Finanzdienstleister in Zentral- und Osteuropa mit über 16 Millionen Kunden in 7 Ländern.
Im Jahr 2003 initiierte Andreas Treichl die Gründung der Erste Stiftung, die zahlreiche Projekte in sozialer Nachhaltigkeit und Entwicklung in Zentral- und Osteuropa unterstützt. Andreas Treichl war von 2003 bis 2012 Vorsitzender der Erste Stiftung und ist seit 2013 Mitglied des Kuratoriums. Andreas Treichl ist der Gründer von good.bee, die sich auf Social Banking zur Durchbrechung der Barrieren finanzieller Ausgrenzung in Rumänien spezialisiert hat. Er ist ebenfalls Gründer der Zweiten Sparkasse, die benachteiligten Gruppen den Zugang zu Finanzdienstleistungen ermöglicht.
Mit seinem Ausscheiden aus dem Vorstand der Erste Group zum Jahreswechsel 2019/2020 wird er als Vorsitzender des Aufsichtsrats in die Erste Stiftung wechseln.