
„Die Effizienz der „alten Welt“ lässt in der heutigen Zeit zu wünschen übrig“, schreibt Dr. Jürgen Großmann, Gründer und Schatzmeister von United Europe e.V., in unserer Artikelserie „Europa kann es besser. Wie unser Kontinent zu neuer Stärke findet. Ein Weckruf der Wirtschaft“, die vom Handelsblatt und United Europe initiiert wurde. „Deutschland muss in Europa zunächst mal kleine Brötchen backen.“
Das europäische Jahrtausend ist seit einhundert Jahren Geschichte – und das sich daran anschließende amerikanische wohl auch. Längst schickt sich China an, den Platz der USA einzunehmen, Europa befindet sich auf einem langen Bremsweg hin zum endgültigen Stillstand. Hegelianische Träume, wonach der Weltgeist – wenn schon nicht in Deutschland, so doch in Europa – sich endgültig niedergelassen hat, sind ausgeträumt.
Das Ende der Arabellion hat wohl auch den letzten Optimisten Besseres gelehrt: Die Demokratie nach westlichem Vorbild breitet sich mitnichten wie von selbst über den ganzen Erdball aus. Einst war sie die schöne Schwester des Kapitalismus, erfolgreich nicht dank höherer Moral, sondern größerer Effizienz.
Demokratie ist der Markt der politischen Ideen, während der Markt der demokratische Wettbewerb unter den Produkten und Dienstleistungen ist. Das war einmal: Der Markt als Kundenseismograf hat ausgedient, wenn man alle Daten schon besitzt.
Demokratische Willensbildung ist letztlich nur hinderlich, um die schon als richtig erkannte Produktstrategie auch durchzusetzen, so der katalanische Wirtschaftswissenschaftler Xavier Sala i Martín auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum 2019 in Davos. China zeigt uns, dass man nicht unbedingt die bürgerlichen Freiheiten braucht, um zu gedeihen.
Der Staatskapitalismus baut eine Magnetschwebebahn, während im Land ihrer Erfinder die Bauvoranfrage ruht. Die autokratische Türkei weiht den größten Flughafen im eurasischen Raum ein, gleichzeitig parken in der Planungsruine BER die aus dem Verkauf gemobbten Diesel-PKW.
Wen wundert’s, dass Europa nicht mehr sexy ist, sondern jetzt wohl wirklich „die Alte Welt“ – nur dass der Begriff nichts mehr hat vom früheren Stolz. Was bleibt vom europäischen Jahrtausend? Hose, Jacket, Hemd und (manchmal noch) Krawatte, die haben fast überall auf der Welt die einheimische Kleidung verdrängt; Parlamentarismus, Gewaltenteilung und die Freiheit des Individuums sind hingegen keine Exportschlager mehr.
Außerhalb Europas scheint all das, was uns wertvoll ist, kaum noch Strahlkraft zu besitzen, und dies fängt an, auf Europa zurückzufallen. Wir sind nicht mehr das große Vorbild für andere Staaten und Gesellschaften, und schon fangen wir an, auch selbst an uns zu zweifeln. Der Brexit hat uns vieles gelehrt, nicht zuletzt den Vorteil der repräsentativen Demokratie gegenüber dem Plebiszit.
Aber auch, wie leicht eine Bevölkerung bereit ist, ein gemeinsames Europa in die Tonne zu treten, zugunsten nebulöser Versprechungen über die Rückkehr zu einstiger Glorie. Wenn man so will, kam der Brexit zur rechten Zeit, um uns zu zeigen, wie dünn die Humusschicht ist, auf der die europäische Pflanze gedeiht.
Um Europa effektiver zu machen, gibt es unzählige konkrete Projekte, die schon längst hätten umgesetzt werden müssen: von der gemeinsamen Steuerpolitik, einer gesamteuropäischen Militärstrategie bis hin zur bis dato aussichtslos erscheinenden gemeinsamen Migrationspolitik.
Wider alle Vernunft
All das aufzuzählen, was konkret getan werden muss, damit Europa auch in Zukunft ein halbwegs ernst zu nehmender Partner in der Welt bleibt, füllte Bände, aber … Und hier kommt ein sehr, sehr großes ABER, es nützte nichts, selbst wenn all diese Vorhaben gelängen: Denn es sind letztlich die Menschen, die in diesem Europa leben, welche darüber entscheiden, was aus uns wird.
Und so absurd es auch ist, der Brexit ist kein Beweis für das Scheitern Europas, sondern für seine Großartigkeit. Wo sonst wohl würde eine Regierung wider alle Vernunft und eigene Einsicht den Willen der Mehrheit des Volkes umsetzen, nur weil es der Wille des Volkes ist?
So wie der Mensch das einzige Tier ist, das seinem Leben selbstbestimmt ein Ende setzen kann, so ist die Demokratie die einzige Regierungsform, die aus sich heraus sehenden Auges in ihr Elend rennen kann.
Das ist im Ergebnis oft bedauerlich, von dem zugrunde liegenden Gedanken jedoch eine der großartigsten Errungenschaften des menschlichen Zusammenlebens und … unser gemeinsames europäisches Erbe, auf das wir stolz sein dürfen. Wenn die Europäer es aber nicht schaffen, die Bürger dafür wieder zu begeistern, dann hülfe es auch nicht, wenn Siemens und Alstom ihre Zugsparten zusammenlegen dürften.
Alles ist vergebens, wenn in Polen, das wie kaum ein anderes Land Osteuropas wirtschaftlich von der EU profitiert, die Wähler europafeindliche Parteien wählen; das Gleiche gilt für Ungarn, Frankreich, und sogar für Deutschland, wenn auch noch nicht in dem Maße. Jeder Euro zur Rettung der maroden italienischen Staatsfinanzen ist herausgeworfenes Geld, wenn die italienischen Wähler einen Haufen Irre in die Regierung hieven.
Man möchte sich dem alten Vorurteil anschließen, dass der Mensch nichts so sehr hasst wie die Hand, die ihn füttert. In einer kürzlich veröffentlichten Studie zur Europaverdrossenheit hat Andrés Rodríguez-Pose von der London School of Economics eine Europakarte der Unzufriedenheit gezeichnet.
Diese entsteht nicht in den ärmsten Ecken Europas, sondern in den deindustrialisierten Regionen, deren Einwohner vergangener Größe und Bedeutung nachtrauern. Dieses Gefühl wird auch nicht durch soziale Wohltaten gelindert: An der Urne rächen sich die „Stehengelassenen“ der globalen Produktionsverschiebung.
Wer früher bei Nokia Handys zusammengebaut hat, muss heute als Kurierfahrer die Smartphones von Samsung ausliefern – da macht die Psyche nicht mit. Wenn sogar ganze Regionen deindustrialisiert werden wie Südostsachsen, dann fehlt nur noch die bedingungslose Grundsicherung – als endgültige Abwrackprämie gesellschaftlicher Teilhabe.
Gelingt es uns nicht, dort durch wirtschaftliche Revitalisierung die Stimmen der Bürger zu gewinnen, nützt die Macron’sche Transferunion auch nichts mehr. It’s the economy, stupid! Schon, doch „monokausal“ hat selten recht. Auch das Bewusstsein, in einem gemeinsamen Europa zu leben, ist rückläufig. Die Europäer haben sich untereinander entfremdet, man trifft sich nicht mehr.
Vorbei die Zeiten, da noch deutsche Schützenvereine in die französische Partnerstadt reisten, da Schüler ein Jahr in einem anderen europäischen Land verbrachten, statt durch Australien zu trampen. Es sind diese scheinbaren Nebensächlichkeiten, die uns zeigen, dass Europa nicht mehr an erster Stelle steht.
Bei Youtube gibt es ein Video, in dem 10.000 Japaner Beethovens „Ode an die Freude singen“ – auf Deutsch! (Es klingt vielleicht seltsam, aber auch deshalb ist das Freihandelsabkommen EPA so geräuschlos zustande gekommen.) Warum kann man es sich nicht mal vorstellen, dass auch nur 1000 Briten oder 100 Griechen die Europahymne auf Deutsch singen oder Deutsche auf Rumänisch, wenn das Land den Ratsvorsitz der EU hat.
Es gibt einen Europatag, den 9. Mai, er ist jedoch nur im Kosovo und ab 2019 in Luxemburg gesetzlicher Feiertag. In Deutschland führten im Jahr 2018 die norddeutschen Länder den Reformationstag als gesetzlichen Feiertag ein, und das Land Berlin – wer sonst keine Sorgen hat – den alten sozialistischen Frauentag. Nationale Engstirnigkeit, wohin man blickt. Wir waren schon mal weiter.
Die Einführung der gemeinsamen Währung und das Schengen-Abkommen haben 350 Millionen Einwohnern der Eurozone den Fortschritt im Einigungsprozess direkt vor Augen geführt. Seitdem fehlt ein entsprechend großes Gemeinschaftsprojekt, das den europäischen Gedanken in den Alltag der Bürger implementiert.
Stattdessen übt sich der selbsternannte Musterschüler Deutschland in Alleingängen: Ausstieg aus der Atomenergie, nun auch aus der Kohle, demnächst aus dem Verbrennungsmotor – alles im Bewusstsein des moralisch-ökologisch höherstehenden Bescheidwissertums. Ungeachtet dessen, ob diese Entscheidungen richtig waren, so sind sie doch in zweierlei Hinsicht falsch bis kurzsichtig.
Falsch sind sie vor allem, weil man keinen der anderen Partner in diese einsamen Beschlüsse miteinbezogen hat. Vieles, was in Osteuropa und im Süden an europäischen Ressentiments entstand, ist im Grunde Widerstand gegen die deutsche Überheblichkeit. Das Gute daran: Wir können es selbst ändern.
Statt im Angesicht des ruhenden Windrades den bösen Atomstrom aus Frankreich zu importieren und aussortierten Euro-V-Diesel in Polen zu entsorgen, wäre eine europäische Abstimmung über eine gemeinsame Energie- und Klimapolitik geboten. Kurzsichtig an den deutschen Alleingängen war und ist die simple Tatsache, dass man volkswirtschaftliche Großinvestitionen nicht beliebig oft tätigen kann.
Ein Flickenteppich aus Funklöchern
Lieber hunderttausend funktionierende Taschenlampen als zehn staatlich geförderte Leuchttürme! Die immensen finanziellen Mittel, die eine Energiewende erfordert, vom Netzausbau bis zur Speicherung, kann man – so viel ist sicher –, woanders nicht mehr ausgeben.
Und dieses nicht besonders exotische Land „Woanders“ liegt direkt vor unserer Haustür: kaputte Straßen und Brücken, marode öffentliche Gebäude, kollabierende Eisenbahn, Großprojekte, für deren Fertigstellung ein Menschenleben nicht reicht. Und das sind jetzt nur die guten alten analogen Aufgaben, die darauf warten, gelöst und bezahlt zu werden.
Wer hört noch einem Politiker zu, der zum x-ten Mal von Digitalisierung schwafelt, wenn er selber täglich über einen Flickenteppich aus Funklöchern zur Arbeit fährt und vor seinem Haus seit Monaten die losen Enden der Glasfaserkabel traurig aus den Erdlöchern lugen. Will sagen: Deutschland hat allen Grund, auf der europäischen Bühne kleine Brötchen zu backen.
Statt sich in Selbstgefälligkeit als der einzige Anwalt des menschlichen Abendlandes zu suhlen, könnte man ja mal fragen, wie Estland es schafft, seine Bevölkerung mit schnellem Internet zu versorgen, bevor Huawei den Deutschen zeigt, wo China den Most holt. Und da sind wir wieder am Anfang unserer Geschichte.
Europa, dieser Wurmfortsatz am westlichen Rand Asiens, ist ein ungeheuer reiches Land an Kultur, Wohlstand und gemeinsamer Geschichte. Das Leidliche am Reichtum ist, dass es zumeist schwerer ist, ihn zu sichern, als ihn zu erwerben. Und genau dort steht Europa heute. Der Status quo an gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und vor allem demokratischen Errungenschaften ist fragil.
Das Nachkriegseuropa ist ein weltgeschichtliches Wunder, für das man danken sollte, in Demut vor dem Erreichten! Am besten, indem man eigene Freiheiten auf eine gesunde wirtschaftliche Basis stellt, sonst drohen sie mit dieser zu verschwinden, bevor der 30-millionste Rentner 63-jährig den Uraltrechner mit toter Software ein allerletztes Mal zuklappt.
Dafür kann auch die deutsche Politik eine Menge tun:
• weniger Alleingänge Deutschlands gegenüber seinen europäischen Nachbarn, wenn es um weit in die Zukunft hineinreichende Entscheidungen geht
• europaeinheitliche Bedingungen für Unternehmen hinsichtlich Besteuerung, Subvention, Ansiedelungspolitik
• gezielte Zuwanderungspolitik auch nach wirtschaftlichen Interessen
• Förderung von Studenten in MINT-Fächern
• Nutzung der Bildungsressourcen einkommensschwacher Schichten
• die Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung.
Vielleicht schaffen wir es dann sogar, den innerdeutschen „Wertegraben“ zuzuschütten. (80 Prozent der Westdeutschen halten die Demokratie für die beste aller Regierungsformen, jedoch nur 50 Prozent der Ostdeutschen.) Wir haben allen Grund, in Europa kleine Brötchen zu backen, fangen wir also zügig damit an.
Die Artikelreihe „Europa kann es besser“ erscheint bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Die Texte sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Dr. Jürgen Großmann:
Dr. Jürgen Großmann ist ein deutscher Unternehmer und Industrieller, der sein Berufsleben in der Stahlindustrie zugebracht hat. Von 2007 bis 2012 war er Vorstandsvorsitzender der RWE AG, einem der großen fünf europäischen Energieversorger.
Im Jahr 2013 gründete er gemeinsam mit dem früheren österreichischen Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel die Initiative United Europe. Im zivilgesellschaftlichen Bereich ist er zudem als einer der Initiatoren der ALS Initiative in Zusammenarbeit mit der Berliner Charitè tätig.
Großmann, 1952 geboren in Mülheim an der Ruhr, studierte nach seinem Abitur 1970 an der TU Clausthal für Eisenhüttenkunde, in Göttingen und Freiburg und absolvierte an der Purdue University West-Lafayette, Indiana, einen Master of Science in Industrial Administration. 1977 schloss er sein Studium in Clausthal mit einem Diplom-Ingenieur in Eisenhüttenkunde ab. 1980 promovierte er an der TU Berlin.
Von 1980 bis 1993 arbeitete er im Konzern der Klöckner-Werke AG, zuerst als Vorstandsassistent, dann als Geschäftsführer verschiedener Tochtergesellschaften. 1993 übernahm er aus der Insolvenz heraus die Georgsmarienhütte, die er im folgenden Jahrzehnt zu einer Gruppe mit über 30 Gesellschaften, mehreren Milliarden Euro Umsatz und derzeit 7.000 Beschäftigten ausbaute.
In den letzten 15 Jahren übte Großmann Aufsichtsrats-, Beirats- und Kuratoriumsmandate aus, u.a. bei Volkswagen AG, Deutsche Post AG, Deutsche Bahn AG, Messer Group, Tognum, Ardex GmbH, ASL Aircraft Service Lemwerder, British American Tobacco Germany, JPMorgan Chase International Council.
Derzeit ist er Vorsitzender des Aufsichtsrates der SURTECO SE, Kuratoriumsvorsitzender der RAG-Stiftung, Mitglied des Aufsichtsrats von Hanover Acceptances Ltd. London und Mitglied im The Holdingham International Advisory Board, London.
Er ist u.a. Träger des Niedersachsenpreises 2001, des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse, des großen Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich, des Vernon A. Walters Award der Atlantik-Brücke und des American Council of Germany und der Karmasch-Denkmünze der Leibniz Universität Hannover. Er ist mit der Musikverlegerin Dagmar Sikorski verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.