Globalisierung und Wettbewerb sind keine Bedrohung, sondern ein Wohlstandsfaktor. Europa weiß die Segnungen des Fortschritts aber immer weniger zu schätzen.
Ein Essay von Werner Baumann, Vorstandsvorsitzender (CEO) der Bayer AG.
„Die Zukunft“, sagte der Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry, “soll man nicht vorhersagen wollen, sondern möglich machen.” Ein kluger Satz, den sich Europa zu Herzen nehmen sollte. Denn in der Europäischen Union hat sich mittlerweile eine Haltung breitgemacht, die Zukunft allzu oft eher verhindert als möglich macht.
Eine Haltung, die Globalisierung und Wettbewerb nicht als Impulsgeber und Wohlstandsfaktor sieht, sondern als Bedrohung. Die mehr danach strebt, Erreichtes zu verteidigen, als Neues zu wagen. Eine Haltung, die weniger fragt: Was kann man damit machen? Sondern vor allem: Was kann dabei schiefgehen?
Ein solches Klima trägt nicht dazu bei, dass Innovationen gedeihen und Erfinder sich entfalten können. Und es gefährdet so den Wohlstand in Europa – eine schwere Hypothek, gerade in dieser schwierigen Zeit. Denn wir brauchen ein prosperierendes Europa, und wir dürfen die Errungenschaften der europäischen Einigung nicht aufs Spiel setzen.
Dass es in Europa eine tiefsitzende Skepsis gegenüber dem technischen Fortschritt gibt, lässt sich belegen. Zum Beispiel war bei der Umfrage »Technik-Radar 2018« in Deutschland nur ein Viertel der Befragten der Ansicht, dass Technik mehr Probleme löst, als sie schafft.
Dazu passt auch, dass Impfungen, die enorm viel zur weltweiten Gesundheit beigetragen haben, in Europa auf größere Vorbehalte stoßen als irgendwo sonst auf der Welt. In einigen europäischen Ländern bezweifelt ein Drittel der Bevölkerung, dass Impfen sicher sei. Am anderen Ende des Spektrums finden sich Länder wie Bangladesch, wo es praktisch überhaupt keine Impfskeptiker gibt.
Gerade dieser Vergleich zeigt: Man hat sich in Europa offenbar schon so an die Segnungen des Fortschritts gewöhnt, dass man sie immer weniger zu schätzen weiß.
So leistet man es sich ja auch, die Gentechnik in der Landwirtschaft abzulehnen. Fast 70 Prozent der Deutschen halten die gezielte genetische Veränderung von Nutzpflanzen für riskant – obwohl gentechnisch veränderte Pflanzen nachweislich sicher für Mensch und Umwelt sind.
Als Folge dieser Technologieskepsis ist Europa im Begriff, als Innovationsstandort den Anschluss zu verlieren und die technische Entwicklung in vielen Bereichen anderen zu überlassen. Machen wir uns nichts vor, die digitale Zukunft wird schon seit Jahren in Kalifornien gemacht. Und auch bei der künstlichen Intelligenz, dem nächsten großen Schub für die Digitalisierung, wird Europa gerade von den USA und China abgehängt.
Bei einer anderen bahnbrechenden Technologie, den neuen Züchtungstechnologien wie CRISPR/Cas, sieht es nicht besser aus. Mithilfe dieser Technologie kann die konventionelle Züchtung durch eine wesentlich präzisere und schnellere Methode ergänzt und teilweise ersetzt werden – und der Einsatz der Technologie ist vom Ergebnis her mit der konventionellen Züchtung identisch. So lassen sich zum Beispiel Pflanzen züchten, die mehr Ertrag bringen oder Dürre besser vertragen, oder auch Pflanzen mit wertvolleren Nährstoffen oder ohne bestimmte Allergene. Damit können diese Technologien viel dazu beitragen, die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren und gleichzeitig Ressourcen zu schonen. Und weil die Methode relativ einfach und kostengünstig ist, kann sie vor allem auch von mittelständischen Saatgutunternehmen und kleineren Forschungseinrichtungen genutzt werden.
Auch hier hätte Europa eigentlich hervorragende Voraussetzungen, ganz vorn mitzuspielen. Aber dem steht jetzt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs entgegen. Die Richter kamen im vergangenen Jahr zu dem Schluss, dass CRISPR/Cas & Co. als Gentechnik einzustufen sind und entsprechend streng reguliert werden müssen. So droht diese vielversprechende Technologie mit einem Federstrich außer Landes getrieben zu werden. Die ersten Anzeichen dafür sehen wir bereits. Dabei gibt es keinen sachlichen Grund für eine besonders strenge Regulierung von Pflanzen, die auf diese Weise gezüchtet wurden: Sie enthalten keine artfremden Gene und unterscheiden sich überhaupt nicht von traditionell gezüchteten Pflanzen.
Der Ball liegt nun im Feld der Politik. Sie ist aufgerufen, die gesellschaftliche Debatte voranzutreiben und eine neue Rechtslage zu schaffen, die es möglich macht, diese Technologie auch in Europa weiterzuentwickeln. Ansonsten lautet die Botschaft an den Rest der Welt wieder einmal: Wir haben keine Ambitionen, hier eine Rolle zu spielen. An den Problemlösungen der Zukunft werden dann künftig andere arbeiten – auch in diesem Bereich. Die erfolgreichen Produkte, das Wachstum und die Jobs von morgen werden anderswo entstehen.
Was muss also geschehen, damit Europa wieder ein erstklassiger und wettbewerbsfähiger Innovationsstandort wird? Die „To- do-Liste“ reicht vom zügigen Ausbau der digitalen Infrastruktur bis zu einer besseren finanziellen Ausstattung von Kindergärten, Schulen und Universitäten. Aber ganz oben auf der Agenda sollten jetzt drei Dinge stehen.
Erstens: der Brexit. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist gerade für die Innovationskraft der EU ein schwerer Schlag. Schließlich ist das Vereinigte Königreich eines der innovativsten Länder Europas, mit hervorragenden Universitäten und Forschungseinrichtungen. Unter den großen EU-Ländern schneidet es bei den meisten Innovations-Länderrankings am besten ab. Umso wichtiger ist es, dass die EU für die Zukunft nach dem Brexit die größtmögliche Integration mit dem Vereinigten Königreich anstrebt – ökonomisch, aber gerade auch in Wissenschaft und Forschung.
Zweitens: Wagniskapital. Die USA haben es vorgemacht: Wagniskapital ist extrem wichtig, wenn es darum geht, wissenschaftliche Erkenntnisse und Ideen zu erfolgreichen Unternehmen zu machen. Andere Regionen ziehen nach, auch Europa – aber die Lücke ist nach wie vor groß. Die Wagniskapital-Investitionen im Jahr 2017 betrugen in den USA 63,8 Milliarden Euro – in Europa waren es mit 15,6 Milliarden Euro nur etwa ein Viertel davon, in Deutschland waren es nur rund 1,1 Milliarden Euro. Von den 50 Städten mit den höchsten Investitionen in Start-ups liegen einer Studie zufolge 21 in den USA, 15 in Asien und nur acht in Europa. Diese Zahlen lassen nur einen Schluss zu: Europa muss noch mehr dafür tun, dass die Umsetzung vielversprechender Ideen nicht am Geld scheitert. Deshalb müssen die Rahmenbedingungen für die Bereitstellung von Wagniskapital in Europa dringend verbessert werden.
Auf diese Weise wird Innovation dezentral von unten getrieben und kann dadurch eine viel größere Kraft entfalten als staatliche Anstrengungen. Sicher: Klug ausgestaltet, können Programme wie die EU-Wachstumsstrategie „Europa 2020“ und das Anschlussprogramm „Horizon Europe“ wertvolle Impulse liefern. Aber das reicht nicht: Die Innovationsdynamik eines Silicon Valley lässt sich eben nicht aus Brüssel – oder irgendeiner anderen Hauptstadt – orchestrieren.
Drittens, und das ist der wichtigste Punkt: Was Europa am meisten braucht, ist ein Kulturwandel, ein Umdenken. Weg von der verzagten Fixierung auf etwaige Risiken, hin zu einer mutigen, zupackenden Kultur der Chancen und der Möglichkeiten. Wohlgemerkt: Es ist gut und richtig, dass der technische Fortschritt von einer umfassenden und auch kritischen öffentlichen Debatte begleitet wird. Und es ist wichtig, dass diese Debatte auch Niederschlag in einem Regulierungsrahmen für die technologische Entwicklung findet, der möglichen Bedenken Rechnung trägt und – wo nötig – Leitplanken setzt.
Es ist aber ganz entscheidend, dass diese öffentliche Debatte sachlich geführt wird und dass Regulierungsentscheidungen auf der Grundlage fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen
werden. Leider sind wir in der EU derzeit weit von diesem Ideal entfernt: Debatten werden emotional geführt und haben oft wenig Bezug zum aktuellen Stand des Wissens. So werden Ängste geschürt – und diese schlagen sich in restriktiven Regulierungen nieder, die den technischen Fortschritt nicht gestalten, sondern verhindern. Die Überbetonung des Vorsichtsprinzips erstickt dabei großartige Chancen im Keim.
Auf diese Weise wäre wohl kaum möglich gewesen, was die Menschheit in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten geschafft hat: Sie hat sich aus dem Elend befreit. Heute leben wir in der besten Welt, die es je gab – entgegen der verbreiteten Ansicht, dass irgendwie alles immer schlimmer wird. Beispielsweise lag die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 1800 weltweit bei 31 Jahren, heute sind es 72 Jahre. Damals starben 44 Prozent der Kinder vor ihrem fünften Geburtstag, heute sind es im Schnitt noch 4 Prozent. Litten im Jahr 1970 noch 28 Prozent der Menschen an Hunger, sind es heute nur noch 11 Prozent – und das, obwohl die Weltbevölkerung seitdem um mehr als 3,8 Milliarden zugenommen hat.
Die Liste der Zahlen, die den Fortschritt belegen, ließe sich beliebig fortsetzen. Sie zeigen: Das Leben ist in praktisch allen Bereichen besser geworden, nicht schlechter. Letztlich ist das ein Triumph der Aufklärung, die den Menschen und die Wissenschaft in den Mittelpunkt stellte – also einer Idee, die einst in Europa entstanden ist. Auf diese Idee sollte sich Europa heute besinnen, an diese Tradition sollte es anknüpfen: an das Europa der Wissenschaft und der Technik, das Erfinder-Europa, das kreative Experimentierlabor, das der Welt Buchdruck und Klavier, Mikroskop und Dampfmaschine, Antibiotika und Automobil, Airbag und mp3-Player schenkte – und wo der erste Computer gebaut wurde.
Denn die Zahlen belegen nicht nur den Fortschritt, sie zeigen auch, dass noch viel zu tun bleibt. Wäre es nicht großartig, Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer endgültig zu besiegen – wie die Pocken, die es seit 1977 nicht mehr gibt? Oder den Hunger auszurotten, an dem noch immer 800 Millionen Menschen weltweit leiden? Niemand kann wissen, ob das jemals gelingen wird. Wir können die Zukunft nicht vorhersagen. Aber wir können sie möglich machen, für immer mehr Menschen.
Der Aufsatz ist Teil der Artikelreihe “Europa kann es besser”, die von United Europe und dem Handelsblatt initiiert wurde. Die Artikel erscheinen bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Sie sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erscheint.
Über Werner Baumann:
Werner Baumann ist seit dem 1. Mai 2016 Vorstandsvorsitzender (CEO) der Bayer AG.
Geboren am 6. Oktober 1962 in Krefeld, studierte er Wirtschaftswissenschaften in Aachen und Köln und trat 1988 in die Bayer AG ein. In Leverkusen übernahm er seine ersten Aufgaben im Ressort Konzernfinanzen. 1991 ging er als Controller zur Bayer Hispania Comercial nach Barcelona, Spanien. Hier wurde er 1995 Assistent der Geschäftsführung. Ein Jahr später wechselte Baumann zur Bayer Corporation nach Tarrytown, USA. Dort leitete er zuletzt die globale Organisation Business Planning & Administration für den Geschäftsbereich Diagnostika. Im Juli 2002 kehrte Baumann nach Deutschland zurück und wurde Mitglied des Executive Committees und Leiter Central Administration & Organization von Bayer HealthCare. Im Oktober 2003 erfolgte die Berufung in den Vorstand des neu gegründeten Teilkonzerns Bayer HealthCare AG, wo er außerdem die Funktion des Arbeitsdirektors innehatte. Zudem begleitete er als Vorstandsmitglied und Arbeitsdirektor von Bayer Schering Pharma von 2006 bis September 2009 die Integrationsphase des Unternehmens in den damaligen Teilkonzern.
Zum 1. Januar 2010 wurde Baumann zum Finanzvorstand der Bayer AG ernannt. Vom 1. Oktober 2014 bis zu seiner Ernennung zum Vorstandsvorsitzenden war er im Konzernvorstand für die Bereiche Strategie und Portfoliomanagement und darüber hinaus für die Region Europa, Naher Osten und Afrika zuständig. Von April bis Ende Dezember 2015 war Baumann zusätzlich Vorsitzender des Vorstands der Bayer HealthCare AG. Werner Baumann ist verheiratet und hat vier Kinder.