Es reicht langsam – das ständige Klagen, was Europa versäumt.
Ob der Euro Bestand hat, die Bürger ausreichend informiert werden, das angebliche Demokratiedefizit der Union, die Arroganz der Brüsseler Elite, die wachsende Ungleichheit, das Versagen in der Klima- und Umweltpolitik und, und, und … Ich kann diese Untergangsgesänge nicht mehr hören. Einfach Fake News!
Soll sich die EU immer wieder aufs Neue rechtfertigen müssen? Dass in drei Jahrhunderten vor der Gründung gezählte 123 Kriege zwischen den heutigen Mitgliedern stattfanden mit Abermillionen
Toten und wir seither über 70 Jahre Frieden und Freiheit genießen dürfen? Dass einstige Militärdiktaturen – Spanien, Portugal, Griechenland – recht sanft integriert werden konnten? Dass wir fast ein Dutzend ehemaliger kommunistischer Satelliten mit offenen Armen aufnahmen? Dass dabei seit der Wende in einer gewaltigen solidarischen Anstrengung 400 Milliarden Euro, ein Mehrfaches des seinerzeitigen Marshallplans der USA, in die neuen Mitgliedsländer zum Aufbau ihrer Wirtschaft und Institutionen flossen?
Auch der Euro hat sich vielfach bewährt, vor allem in der Finanzkrise. Er ist mittlerweile zur zweitwichtigsten Reservewährung der Welt aufgestiegen, im Handelsvolumen gleichauf mit den USA. Die Eurozone hat seit der Finanzkrise 1,4 Billionen Euro an Zinsen gespart. Alle Länder sind aus dem Krisenmodus heraus, erfüllen die Defizitregeln, haben 14 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen und bilden die stärkste Wirtschaftszone der Welt mit dem dichtesten globalen Freihandelsnetz.
Und Hand aufs Herz – zwar ist keine Demokratie der Welt perfekt, aber Europas Demokratie bleibt ein Leuchtfeuer in einer sich langsam verdunkelnden Geo-Politwelt. Laut Freedom House galten 1990 12 Prozent der Staaten als „not free“; heute ist es bereits ein Drittel, und in fünf Jahren könnte es bereits mehr als die Hälfte betreffen. Eine spannende Herausforderung für die 7 Prozent der Weltbevölkerung, die auf nur drei Prozent der Landmasse der Erde leben, aber für rund die Hälfte der globalen Sozialleistungen aufkommen müssen. Die Konkurrenz schläft ja nicht – unberechenbare USA, aufstrebendes China, wegdriftendes Russland, dominante Tech-Giganten …
Was also tun? Konzentration auf eigene Stärken. Den Binnenmarkt vollenden – bei Dienstleistungen, Digitalisierung, Standard-Setting, Energieversorgung. Die Eurozone absichern durch eine funktionierende Bankenunion, einen EU-Währungsfonds, unterstützende Exportkredite in Zukunftsmärkte wie Afrika und Asien. Eine starke europäische Stimme in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Besten in die EU-Institutionen (Rat, Parlament, Kommission) entsenden.
Und nicht zuletzt – Demokratien brauchen Demokraten und Europa braucht Europäer, die diese Idee mit Leidenschaft bejahen und verteidigen. Vor zwei Jahren hörte ich Shimon Peres, den großen Präsidenten Israels, bei einem emotionalen Plädoyer: „Europa? Lange Zeit nur ein kleiner, hassgetriebener Kontinent, der sich heute gar nicht der Erfolgsgeschichte der letzten Jahrzehnte bewusst sei. Euer Einkommen ist heute fünfzigmal höher als 1955… Selbst die Ärmsten unter euch haben heute Wasser, Nahrung, Wohnungen. Und ihr habt etwas Sensationelles entwickelt – ein ‚collective brain‘. Der europäische Traum der Wettbewerbsfähigkeit, des sozialen Zusammenhalts, der ökologischen Nachhaltigkeit lebt und wird auf der ganzen Welt geachtet.“ Daher protestiere er „im Namen aller Optimisten gegen die herrschende pessimistische Grundstimmung. Geschichte ist die optimistischste Sache unseres Lebens!“ Dies war seine letzte Botschaft. Wenige Tage später streckte ihn ein Schlaganfall nieder. Seine Worte sind kostbar und dürfen nicht vergessen werden!
Der Text ist Teil der Artikelreihe „Europa kann es besser“, die von United Europe und dem Handelsblatt initiiert wurde. Die Artikel erscheinen bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Sie sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erscheint.
Über Dr. Wolfgang Schüssel:
Dr. Wolfgang Schüssel, geboren am 7. Juni 1945, war von 2000 bis 2007 Bundeskanzler der Republik Österreich. Vor seiner Zeit als Kanzler amtierte Schüssel in verschiedenen Bundesregierungen als Wirtschaftsminister, Außenminister und Vizekanzler. 1995 hatte er den Vorsitz der Österreichischen Volkspartei übernommen. Bei den Wahlen 2002 erzielte sie ihr bestes Ergebnis in fast vier Jahrzehnten und wurde stärkste Partei im Nationalrat. Nach Ende seiner Regierungszeit gehörte Schüssel noch vier Jahre lang – bis 2011 – dem Nationalrat an. Gemeinsam mit Jürgen Großmann gründete er 2013 den gemeinnützigen Verein United Europe e.V. Er ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen, Vorsitzender des Kuratoriums der Konrad-Adenauer-Stiftung, Kuratoriumsmitglied des Instituts für Demoskopie Allensbach und Aufsichtsratsmitglied von RWE und MTS. Der gebürtige Wiener besuchte in seiner Heimatstadt das renommierte Schottengymnasium, bevor er Volkswirtschaft und Rechtswissenschaften studierte.