
„Wir brauchen ein „Europa, das schützt“ – entsprechend des Mottos der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft – in physischer, wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht“, schreibt Dr. Martin Brudermüller, Vorsitzender des Vorstands BASF SE, in seinem Beitrag zu unserer Artikelserie „Europa kann es besser“: „Aber wir brauchen auch eine starke Leitidee für Europa, um alle EU-Bürgerinnen und -Bürger von den Zukunftschancen und Vorteilen eines starken Europas zu überzeugen. Diese Leitidee für Europa ist das „Europa der Ideen“.
Als ich im Jahr 1961 geboren wurde, stellten Großbritannien, Irland und Dänemark den Antrag auf Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). 1979, in meinem letzten Schuljahr, fand die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments statt. Im Abschlussjahr meines Studiums, 1985, wurde das Schengen-Abkommen zur Abschaffung aller Personenkontrollen an den Binnengrenzen Deutschlands, Frankreichs und der Benelux-Länder unterzeichnet. Ich bin mit der fortschreitenden Integration Europas aufgewachsen, und genau wie ich kann jede Bürgerin, jeder Bürger Europas seine persönliche Vita mit der Entwicklung der EU verknüpfen. Ich war schon damals begeistert von Europa. Doch so richtig bewusst als Europäer fühlte ich mich zum ersten Mal während meines Studiums in den USA. Und wahrscheinlich geht es vielen von uns so – der Wert von etwas wird einem erst dann so richtig klar, wenn man es gerade nicht hat.
Das zeigt auch der Brexit. Wenn er vollzogen sein wird, werden die in der EU verbleibenden 27 Staaten den Verlust sehr schmerzhaft spüren. Die Briten wiederum werden zunehmend erkennen, welch enge Verbindung sie zur EU haben und welche oft unsichtbaren Vorteile damit verbunden sind. Die qualvollen Diskussionen über den Ausstieg und erst recht das zukünftige Verhältnis ihres Landes zur EU machen das schon heute mehr als deutlich. Als Bürgerinnen und Bürger der EU-27 müssen wir aus diesem Verlust lernen und uns der Vorteile der EU klar bewusst werden – ohne sie erst zu verlieren.
Europa ist das größte Friedensprojekt des 20. Jahrhunderts. In einem EU-Mitgliedsland aufzuwachsen, heißt, in Frieden aufzuwachsen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Zu Beginn des Jahres haben Angela Merkel und Emmanuel Macron in Aachen den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag erneuert. Aus den Erzfeinden von einst sind längst engste Partner geworden. Die Wiedervereinigung Deutschlands hätte ohne die feste Einbindung Deutschlands in die EU auch anders, vielleicht weniger friedlich, verlaufen oder gar überhaupt nicht passieren können. Auch der Brexit zeigt erneut die friedensstiftende Wirkung der EU: Fast unlösbar erscheint die Frage, wie nach dem EU-Austritt die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland so gestaltet werden kann, dass der Nordirlandkonflikt nicht wieder aufflammt.
Die EU ist auch ein äußerst erfolgreiches Wohlstandsprojekt. Die Bedeutung des EU-Binnenmarkts ist dabei gar nicht hoch genug einzuschätzen. Seit dem Inkrafttreten des Binnenmarkts 1993 ist das Bruttoinlandsprodukt in den EU-28 pro Kopf stärker gewachsen als im Durchschnitt der OECD. Der freie Waren- und Güterverkehr hat sich aber nicht nur für das gesamteuropäische Wachstum bezahlt gemacht, sondern auch für die EU-Bürgerinnen und -Bürger: Ohne Grenzkontrollen können sie einfacher reisen und in anderen EU-Staaten studieren und arbeiten. Europa steht für Frieden, Freiheit, Stabilität und für Wohlstand.
Was ist los mit der EU? Warum ist sich kaum jemand dieser Erfolge richtig bewusst? Die EU steckt in einer tiefen Krise. Der rasante wirtschaftliche und technologische Aufstieg Chinas, die Strukturveränderungen in der Industrie durch Digitalisierung und Automatisierung, die Migrationsbewegungen – diese Umbrüche bringen die EU und ihre Mitgliedsländer aus dem Takt. Viele Bürgerinnen und Bürger empfinden diese Herausforderungen als Bedrohungen, und sie vermissen zukunftsfähige Antworten ihrer Regierungen. Doch es ist eine Illusion, wenn Einzelstaaten glauben, allein die Kraft und die Möglichkeiten zu haben, auf diese Fragestellungen langfristig bessere Antworten zu finden, als die EU gemeinsam. Wir brauchen ein „Europa, das schützt“ – entsprechend des Mottos der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft – in physischer, wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht. Aber wir brauchen auch eine starke Leitidee für Europa, um alle EU-Bürgerinnen und -Bürger von den Zukunftschancen und Vorteilen eines starken Europas zu überzeugen. Diese Idee für Europa ist das „Europa der Ideen“.
Die Geschichte Europas ist eine Geschichte der Ideen, der Erfindungen, der Innovationen. Zum Beispiel in der Chemie: Von den ersten 100 Elementen des Periodensystems wurden 78 in Europa entdeckt. Die Entwicklung der Ammoniaksynthese oder von Kunststoffen, ohne die modernes Leben nicht denkbar wäre, Entwicklungen in der modernen Medizin, bei Automobilen, in der Mechanik und vielen anderen technologischen Feldern basieren auf Ideen aus Europa. Noch immer sind europäische Unternehmen – kleine, mittlere und große – in Europa und der Welt erfolgreich, weil sie ihre Märkte über Innovationen erschließen. Durch ihre Innovationskraft bieten diese Unternehmen nachhaltige Lösungen für zentrale gesellschaftliche Herausforderungen wie Klimaschutz, Energieversorgung, Ernährung und Mobilität. Bis heute haben sie sich erfolgreich an ein sich veränderndes Umfeld anpassen können. Innovative Produkte waren schon immer die Basis für den Wohlstand Europas, eines Kontinents, der seine Stärke vor allem durch eine Ressource erreicht hat – die Ideen seiner Menschen.
Die Innovationstradition Europas hat drei entscheidende Säulen: Vielfalt, Offenheit und Zusammenarbeit. Kein Kontinent mit ähnlicher kultureller Vielfalt hat eine mit der EU vergleichbare Integration geschafft. Mit dem Zusammenwachsen Europas ist aus dem Gegensatz von Kulturen eine Offenheit gegenüber anderem Denken entstanden. Bei der Suche nach neuen Ideen ist das eine enorme Stärke, denn grundlegende Innovationen kommen heutzutage fast nur noch aus dem Zusammenwirken mehrerer wissenschaftlicher und technischer Disziplinen. Ideen entstehen da, wo vielfältige Perspektiven zusammenkommen. Ganz offensichtlich haben wir etwas verlernt, denn unterschiedliche Perspektiven scheinen in Europa momentan eher dazu zu führen, dass Nationen eigene Wege gehen wollen.
Ohne Innovationen gibt es keine Zukunft mit Wohlstand. Deshalb brauchen wir mehr denn je kreative und innovative Lösungen – warum sollten diese nicht aus Europa kommen? Nach wie vor werden rund 30 Prozent der weltweiten wissenschaftlichen Veröffentlichungen in Europa verfasst, eine beachtliche Leistung! Allerdings muss es uns Europäern gelingen, aus dieser guten Ausgangslage noch mehr Innovationen, Produkte und kommerzielle Anwendungen in den Markt zu bringen. Für ein „Europa der Ideen“ brauchen wir einen neuen europäischen Innovationsschub.
Daher muss Forschung noch besser und konsequenter gefördert werden, und zwar von der Grundlagen- bis zur angewandten Forschung. Der nächste mehrjährige Finanzrahmen der EU bietet große Chancen, durch eine deutliche Erhöhung der Investitionen in das nächste Forschungsrahmenprogramm ein unmissverständliches Zeichen zu setzen. Zahlreiche europäische Universitäten und Forschungseinrichtungen gehören in den MINT-Fächern noch immer zur internationalen Spitze. Dieses Potenzial müssen wir über bestehende Netzwerke und Cluster in allen Regionen Europas systematisch ausbauen und stärken.
Eine solche Innovationspolitik sollte gleichzeitig eng mit einer visionären Industriepolitik verknüpft werden. Um zu wettbewerbs- und damit marktfähigen Lösungen zu kommen, muss Innovation auf ein regulatorisches Umfeld treffen, das ihre Einführung fördert. Dazu sollte das Innovationsprinzip konsequent angewandt werden, mit dem Regulierungen dahingehend überprüft werden, ob sie Innovationen fördern oder wenigstens nicht behindern. Auch gilt es, die Innovations- und Industriepolitik noch stärker auf europäische Wertschöpfungsketten auszurichten. Ein Beispiel sind die Elektromobilität und die damit einhergehenden Zukunftstechnologien: Hier müssen Anstrengungen über Ländergrenzen hinweg gebündelt werden, damit wir Technologien, deren Verfügbarkeit und Arbeitsplätze in Europa langfristig sichern können.
Ideen sind aber nicht nur die Basis für Innovationen und damit die Entwicklung von Lösungen, um den großen weltweiten Herausforderungen erfolgreich zu begegnen und den langfristigen Wohlstand
des Kontinents zu sichern. Ideen sind noch viel mehr auch eine verbindende Kraft über nationale, kulturelle und gesellschaftliche Grenzen hinweg. Das zeigt der Wissensverbund quer durch Europa, das zeigen die multinationalen Forscherteams, die mit ihren unterschiedlichen Biografien und Sichtweisen die europäische Forschungslandschaft zu dem gemacht haben, was sie heute ist – Spitzenklasse! Wir alle können dazu beitragen, dass wir ein »Europa der Ideen« werden, in dem uns Ideen verbinden und Europa ein schlagkräftiger, erfolgreicher und optimistischer Kontinent bleibt.
Ich bin Deutscher mit europäischem Herzen und von der Idee Europas begeistert. Deshalb gehe ich am 26. Mai 2019 wählen – für ein starkes Europa, das unsere Sicherheit und unseren Wohlstand garantiert.
Der Aufsatz ist Teil der Artikelreihe „Europa kann es besser“, die von United Europe und dem Handelsblatt initiiert wurde. Die Artikel erscheinen bis zur Europawahl im Handelsblatt auf Deutsch und in Deutsch und Englisch auf Handelsblatt Online und der Website von United Europe. Sie sind auch in einem Buch zusammengefasst, das am 15. April 2019 im Herder-Verlag erschienen ist. Weitere Informationen über das Buch finden Sie hier.
Über Dr. Martin Brudermüller:
Dr. Martin Brudermüller, geboren 1961 in Stuttgart, ist Vorsitzender des Vorstands und Chief Technology Officer (CTO) der BASF SE. Brudermüller war ab 2011 stellvertretender Vorstandsvorsitzender und ist seit 2015 Chief Technology Officer (CTO) der BASF SE. Bereits seit dem Jahr 2006 ist er Mitglied des Vorstands und war währenddessen auch für die Region Asien-Pazifik sowie für den Bereich Performance Materials verantwortlich. Brudermüller studierte Chemie an der Universität Karlsruhe, wo er 1987 promovierte. Anschließend absolvierte er einen Postdoc-Aufenthalt an der University of California, Berkeley, USA. Seine Laufbahn bei BASF begann er
1988 im Ammoniaklabor. Von 1993 bis 1995 arbeitete er im New Business Development/Marketing im Unternehmensbereich Zwischenprodukte. 1995 wechselte er zur BASF Italia Spa, Mailand.
Anschließend arbeitete er im Stab des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden und war von 1999 an Director für die Produktion fettlöslicher Vitamine im Unternehmensbereich Feinchemie.