In einer Zeit zunehmenden Protektionismus und wachsender Skepsis gegenüber internationalen Institutionen steht die Welthandelsorganisation (WTO) an einem entscheidenden Wendepunkt.
Anlässlich des 30-jährigen Bestehens der WTO sprach Barbara Tasch-Ronner, Vorstandsmitglied von United Europe, mit Danai Budas, stellvertretende Direktorin für internationale Beziehungen und Märkte bei der Österreichischen Industriellenvereinigung (IV), darüber, warum diese Institution nach wie vor unverzichtbar ist – insbesondere für kleine, exportorientierte Volkswirtschaften wie Österreich. Im Gespräch thematisierten sie die Vorteile des multilateralen Handels, die Herausforderungen der globalen Zusammenarbeit und warum Reformen sowie ein erneuertes Bekenntnis zur WTO dringend erforderlich sind.

Barbara Tasch-Ronner: Warum brauchen wir eine multilaterale Handelsorganisation wie die WTO – und welchen Nutzen haben Unternehmen davon?
Danai Budas: Aus Sicht der Unternehmen – und ich spreche hier in meiner Funktion als Vertreterin der Östereichischen Industriellenvereinigung (IV) – ist klar: Offene Märkte sind für die Wirtschaft essenziell. Österreich ist ein kleines, exportorientiertes Land – rund 60% unseres BIP werden durch Exporte erwirtschaftet. Der Zugang zu internationalen Märkten ist daher entscheidend für unseren Wohlstand.
Viele Menschen erkennen die Vorteile der WTO nicht mehr bewusst, weil sie diese als selbstverständlich ansehen. Doch eines der Kernprinzipien der WTO ist die Nichtdiskriminierung – also gleiche Handelsbedingungen für alle Mitgliedsstaaten. Etwa 74% des weltweiten Handels erfolgen derzeit auf Basis der WTO-Regeln. Allein diese Zahl unterstreicht die enorme Bedeutung der Organisation. Studien des Kiel Instituts für Weltwirtschaft zeigen, welche Folgen ein Ausfall der WTO hätte: Es entstünde eine stark fragmentierte Weltwirtschaftsordnung. Kurzfristig würde das BIP etwa in Deutschland um 3% sinken, in China sogar um 6%. Diese Zahlen machen deutlich, wie wichtig die WTO für die Stabilität des globalen Handels ist.
Barbara Tasch-Ronner: 30 Jahre WTO – Gibt es Grund zu feiern?
Danai Budas: Die WTO feiert in diesem Jahr ihr 30-jähriges Bestehen – ein bedeutender Meilenstein seit ihrer Gründung 1995. Sie hat maßgeblich zu wirtschaftlichen Globalisierung und zur Erleichterung des Welthandels beigetragen. Gleichzeitig sah sich die WTO mit großen Herausforderungen konfrontiert: Handelskriege, zunehmend komplexe Lieferketten, scheinbar unlösbare Interessenskonflikte zwischen Industrie- und Entwicklungsländer und ein dringender Reformbedarf. Die letzte größere Reform – das Abkommen zu Fischereisubventionen zur Eindämmung der Überfischung – war zwar ein wichtiger Schritt, doch aus Sicht der Industrie sind noch viele Themen ungelöst. Ein Konsens unter 166 Mitgliedsstaaten ist zweifelos schwer zu erreichen. Dass aber weiterhin Länder der WTO beitreten möchten, zeigt ihre ungebrochene Relevanz. Trotz aller Herausforderungen bleibt die WTO ein Eckpfeiler des globalen Handelssystems – allein das ist Grund für vorsichtigen Optimismus.
Barbara Tasch-Ronner: Was sind die größten Herausforderungen der WTO?
Danai Budas: Eine der größten Herausforderungen – und zugleich eine große Chance – ist die Vielfalt der Mitgliedsstaaten. 166 Länder mit unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen, Interessen und politischen Systemen an einen Tisch zu bringen, ist eine enorme Aufgabe. Dennoch zeigt die Tatsache, dass sie sich regelmäßig bemühen, Kompromisse zu finden, wie stark die Idee des Multilateralismus trotz aller Spannungen weiterhin ist. Wir dürfen nicht vergessen: Selbst bilaterale Handelsabkommen brauchen oft fünf bis sechs Jahre bis zum Abschluss. Dass multilaterale Verhandlungen mit noch mehr Akteuren Zeit und Geduld erfordern, ist daher nachvollziehbar.
Barbara Tasch-Ronner: Wie steht es um den Druck auf den Welthandel – insbesondere aus den USA?
Danai Budas: Ja, es sind schwierige Zeiten für den globalen Handel. Die Drohung neuer Zölle und der grundsätzliche Angriff auf den Multilateralismus unter Präsident Trump haben erheblichen Schaden angerichtet. Dochc wie die derzeitige Generaldirektorin der WTO betont, zeigt gerade diese Entwicklung, wie wichtig ein funktionierendes multilaterales Handelssystem ist. Eine reale Bedrohung ist, dass die USA seit 2024 keine Mitgliedsbeiträge mehr gezahlt hat. Als größter Einzelzahler stellt das ein ernstzunehmendes Risiko dar. Die USA als große Volkswirtschaft bevorzugen häufig bilaterale Abkommen, bei denen sie eine stärkere Verhandlungsposition haben- doch genau deshalb ist die WTO so wichtig: Sie gibt auch kleineren Ländern eine Stimme auf der Weltbühne.
Ich hoffe sehr, dass die USA Teil der WTO bleiben. Selbst wenn nicht – die Organisation wird weiter bestehen und auch relevant bleiben. Aber ja, ohne die USA wäre sie deutlich weniger effektiv.
Barbara Tasch-Ronner: Wie steht es um die Blockade des WTO-Berufungsgremiums – kann die Streitbeilegung wiederhergestellt werden?
Danai Budas:Das ist eines der dringendsten Probleme. Das Berufungsgremium – gewissermaßen das oberste Gericht der WTO- Streitbeiegung – ist seit 2019 aufgrund einer Blockade der USA bei der Ernennung neuer Richter nicht mehr funktionsfähig. Dieses Gremium gilt als das „Kronjuwel“ der WTO, da es für die Durchsetzung der internationalen Regeln steht. Die USA kritisieren, dass Entscheidungen ihre nationale Souveränität beeinträchtigen – und in gewissem Maß sind diese Bedenken nachvollziehbar. Wir müssen diese ernst nehmen und als Ausgangspunkt für Verhandlungen nutzen.
Die EU und gleichgesinnte Partner wie Australien, Kanada und auch China haben bereits plurilaterale Übergangslösungen geschaffen, um Streitigkeiten bis zur Wiederherstellung des WTO-Systems beizulegen. Langfristig muss das Berufungsgremium jedoch wieder voll funktionsfähig sein. Ohne dieses Gremium gehen Berufungen ins Leere – was das gesamte System schwächt.
Barbara Tasch-Ronner: Was muss geschehen, um die WTO wieder fit für die Zukunft zu machen?
Danai Budas: Die WTO braucht dringend Reformen, um im heutigen globalen Wirtschaftssystem relevant zu bleiben. Ein zentrales Thema ist der faire Wettbewerb. Seit 1995 hat sich die Welt grundlegend verändert, viele neue Länder sind beigetreten. Länder wie Österreich haben zunehmend Schwierigkeiten, in Drittstaaten mit stark subventionierten chinesischen Automobilherstellern zu konkurrieren.
Die EU unterliegt strengen Beihilfevorschriften, andere Länder halten sich nicht an solche Standards. Zwar gibt es WTO-Regeln zu Subventionen, aber diese werden oft nicht ausreichend durchgesetzt.
Ein weiteres Beispiel ist die Stahlindustrie: Überkapazitäten weltweit, kombiniert mit Strafzöllen, verschärfen die Situation zusätzlich. Plurilaterale Abkommen können kurzfristig ein pragmatischer Weg sein – dennoch hoffen wir langfristig auf einen breiteren Konsens zu den zentralen Fragen des Welthandels.
Q&A
Würde die WTO ohne die USA noch funktionieren – und warum sollten kleinere Länder Mitglied bleiben?
Danai Budas: Technisch gesehen ja – die WTO würde auch ohne die USA weiterexistieren. Aber sie würde einen Großteil ihres Gewichts und Einflusses verlieren. Es ist allerdings auch nicht realistisch anzunehmen, dass sich die USA vollständig zurücckziehen. Ein Austritt würde bedeuten, dass die USA sämtliche Handelsabkommen mit 166 Ländern neu verhandeln müssten – ein gewaltiger und kostspieliger Kraftakt, der sichc über Jahre hinziehen könnte.
Wie steht es um Zölle und globale Lieferketten – handelt es sich dabeii um reale Bedrohungen oder nur politisches Theater?
Lieferketten sind heute tief miteinander verflochten. In den vergangenen 50 Jahren ist die Logstik des Welthandels enorm komplex geworden – ein Auto überquert während der Montage mehrmals Landesgrenzen. In den USA kann es vorkommen, dass ein Fahrzeug bis zu sieben Mal zwischen den USA und Mexico hin- und her transportiert wird, bevor es fertiggestellt ist.
Danai Budas: Diese Komplexität macht es extrem schwierig, Zölle wirksam umzusetzen, ohne unbeabsichtigte Schäden zu verursachen. Deshalb sehe ich viele dieser angedrohten Zölle eher als Verhandlungstaktik. Sie dienen dazu, Druck auszuüben und die Gegenseite zu Zugeständnissen zu bewegen.
In diesem Sinne sind Zölle oft ein Mittel, um Gespräche zu eröffnen – nicht unbedingt langfristige handelspolitische Maßnahmen.