Deutsche Politik, insbesondere gegenüber internationalen Organisationen wie der EU, der NATO oder der OSZE, positioniert sich nur unzureichend angesichts der gravierenden Krisen. Die Präambel des deutschen Grundgesetzes mandatiert Deutschlands Verantwortung für den Frieden in einem vereinten Europa. 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung ist dies immer noch das definierende Moment der Berliner Republik. Doch nun befindet sich Europa in einer neuen Krise: Der Corona-Pandemie. Der französische Präsident Emmanuel Macron nennt dies „Europas Moment der Wahrheit“: Die Welt beobachtet deshalb, ob Deutschland während seiner EU-Ratspräsidentschaft die europäische Einheit und Solidarität erhalten kann. Sowohl Europa als auch die transatlantische Partnerschaft brauchen Deutschlands Führung. Welche Initiativen kann Deutschland als das reichste und sicherste Land der Union ergreifen, wie kann es führen, ohne zu dominieren?
Jetzt, wo die europäische Debatte immer mehr um die europäische Selbstbestimmung in den transatlantischen Beziehungen kreist, ist Europa auf seine geo-ökonomische Macht und seine Soft Power angewiesen. Europäischer Einfluss entsteht durch ökonomische Stärke, durch Informationssicherheit und Regelwerke, durch Datenschutz u.a.m. Aber woher bekommen Politik und Öffentlichkeit Informationen und Analysen über Trends und Probleme, die nötig sind, um europäische Politik zu gestalten?
Die Europäische Union und insbesondere Deutschland – ihr wirtschaftlich und politisch einflussreichstes Mitglied – müssen den politischen Willen aufbringen, sich den Herausforderungen einer Weltordnung in Auflösung zu stellen. Die Mitgliedstaaten müssen die Notwendigkeit einer langfristigen strategischen Debatte anerkennen, um die transatlantischen Beziehungen sowie die liberalen Werte und die Stabilität der Europäischen Union in einer Welt zu retten, die dem „Überleben des Stärkeren“ zu erliegen scheint.
Europa muss seine internationale Irrelevanz überwinden. Eine sinnvolle Debatte über europäische Sicherheitsfragen ist nicht ohne die Unterstützung und den politischen Willen Deutschlands zu führen. Anhörungen und Debatten mit europäischen Experten im Bundestag könnten der Ausgang dafür sein, damit deutsche Politik das Vakuum europäischer Führung füllt. Deutschland muss den einen unilateralen Sonderweg vermeiden und als „Partner in Leadership“ mit anderen europäischen Mitgliedsstaaten seine Position finden. Deutschland sollte seinen politischen Entscheidungsprozess durch eine regelmäßige Reihe von Bundestagsdebatten und Berichte eines Sachverständigenrates für Strategische Vorausschau erweitern, um seine Strategiefähigkeit zu stärken und die Öffentlichkeit für globale Probleme zu sensibilisieren. Führung in Europa würde gleichzeitig die Transatlantischen Beziehungen stärken.
Europa befindet sich zunehmend in einem Modus des Krisenmanagements, insbesondere nachdem der Vorhang, der militärische Konflikte verschleiert hat, endgültig gelüftet wurde. „Europa wieder relevanter machen“, könnte die Maxime sein, aber wie?
Mit dem Abzug der USA aus dem internationalen Machtgefüge, der Infragestellung der amerikanischen Zusicherung zur kollektiven Sicherheit unter Artikel 5 des NATO-Vertrages erweisen sich die USA als unsicherer Partner. Im April 2019 veröffentlichte die Stiftung Wissenschaft und Politik eine Studie über die europäische Dauerkrise – »Europas Banalität des Guten« – die im Kern die Frage stellt: Kann Europa aus dieser Krise der transatlantischen Partnerschaft eine neue Ordnung gestalten, wenn die USA sich aus Europa zurückziehen?
Das europäische Dilemma lässt sich an den drei Handlungsalternativen verdeutlichen, die als Reaktion auf die iranischen Drohungen 2019 in der Straße von Hormus bestanden. Zunächst der Versuch, die Straße von Hormus offen zu halten, dem jedoch die iranische Beschlagnahmung von Schiffen entgegenstand. Zweitens hätte man eine eigene europäische militärische Mission organisieren können, in diesem Fall aber einen bewaffneten Kampf mit dem Iran riskieren müssen. In einer dritten Version hätte Europa mit Luftwaffe die Straße von Hormus beobachten können. Der Weg zu Kohäranz ist lang.
Die Unsicherheit in Deutschland zeigt sich an den Positionen seiner Politiker. Während die Verteidigungsministerin sich durchaus für eine gemeinsame europäische Mission ausgesprochen hat, an der die deutsche Marine zum Schutz der Freiheit der Durchfahrt in der Straße von Hormus teilnehmen würde, war Außenminister Heiko Maas zögerlicher und sprach sich eher für eine Überwachungsmission aus. Andere deutsche Parteien haben sich vollständig gegen eine Marine-Operation ausgesprochen. Zu einem Handeln kam es bisher noch nicht.
Ein Sachverständigenrat für Strategische Vorausschau
Deutschland kann diese strukturellen Probleme angehen. Strategische Vorausschau will eine informierte öffentliche Debatte fördern und diese zur Basis von politischen Entscheidungen machen. Nach vorne sehen, Risiken und Chancen identifizieren, Alternativen frühzeitig abwägen – all dies könnte signifikanten Einfluss auf die Strategiefähigkeit der deutschen Außenpolitik haben.
Während Think Tanks und Universitäten in der Lage sind, neue, politik-relevante Ideen zu entwickeln, müssen Politiker Politik gestalten und über deren Ergebnisse diskutieren. Ein Sachverständigenrat kann Risiken wie drohende Konflikte, Konfrontationen oder andauernde Probleme wie die Ressourcenknappheit und die Folgen des Klimawandels als Megatrends und Teil komplexer, multi-dimensionaler Konflikte identifizieren. Ein Sachverständigenrat kann Szenarien entwickeln und mögliche strategische Optionen offerieren. Er kann jedoch keine Entscheidungen treffen, sondern ertüchtigt die Parlamentarier bei ihrer Aufgabe, die Regierung zur Rechenschaftspflicht zu ziehen und Politikalternativen zu entwickeln, damit auch das Wählervertrauen zu stärken. Die Vorbereitung der Öffentlichkeit auf potentielle Risiken ist vonnöten. Durch Szenarien kann aufgezeigt werden, wann, wie und welche nationalen deutschen Interessen angegriffen werden könnten.
Ein Rat für Strategische Vorausschau bildet die Basis für eine fortwährende, informierte öffentliche Debatte über Strategie, Außen- und Sicherheitspolitik. Fundiert sein könnte diese Debatte in jährlichen Expertenanalysen zu globalen Trends, Szenarien und Handlungsalternativen für jetzige sowie zukünftige Herausforderungen. Durch reguläre Anhörungen im Bundestag könnten in einer offenen Debatte die Meinungen von Verbündeten und Nachbarn eingeholt werden. Kurzfristig würde dies den politischen Prozess informieren und den Wählern der Bundestagsabgeordneten versichern, dass sie wichtige Themen behandeln. Langfristig könnte dadurch ein Wandel in der strategischen Kultur erreicht werden, der die Notwendigkeit, Strategien für Deutschland und Europa zu entwickeln, die die Weltordnung auf Basis einer starken transatlantischen Partnerschaft stärken oder neu formen, unterstützen würde.
Die Nähe zum politischen Prozess würde Legitimität schaffen, die Verankerung im Bundestag eine gewisse Überparteilichkeit gewährleisten.
Ein souveränes Deutschland braucht eine auf strategischen Plänen basierende Außen- und Sicherheitspolitik. Gleichzeitig bedarf es aber auch einer Sicherheitsstrategie für Europa, die , strategisches Planen als Priorität jenseits des Krisenmanagements festlegt. Ein souveränes Deutschland, dass seine Pflichten gegenüber der EU und der NATO mit dem Prinzip »Führung durch Partnerschaft« und in Kenntnis seiner Geschichte ausübt, ist die größte Hoffnung für die Neugestaltung der liberalen Weltordnung. Hoffnung ist freilich noch keine Strategie.
Ja, Deutschland kann Europa führen und die europäische Seite der transatlantischen Partnerschaft stärken. Die ganze Welt schaut dabei zu und wartet, ob Deutschland diese Führungsrolle übernehmen wird. Gerade für die USA ist es notwendig, dass Deutschland bereit für diese Verantwortung ist und dabei hilft, die europäische Seite der transatlantischen Beziehung zu stärken.
Der Text ist Teil des Weißbuchs „Bericht zur Lage der Informations-Qualität in Deutschland“ und wurde im Rahmen eines Parlamentarischen Abends in Berlin am 15.9.2020 vorgestellt. Das gesamte Weißbuch kann hier heruntergeladen werden.
Prof. Dr. James D. Bindenagel ist ehemaliger US-Botschafter und diente als amerikanischer Diplomat in Ost, West und im vereinigten Deutschland. Er ist Senior Non-Resident Fellow des German Marshall Fund of the United States in Berlin und Mitglied von United Europe. Bindenagel lehrt als Senior Professor und schreibt über internationale Sicherheit im 21. Jahrhundert. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind deutsche Sicherheitsfragen, deutsch-amerikanische Beziehungen, Konfliktprävention, Post-Konflikt-Gerechtigkeit und die transatlantischen Beziehungen.