Die aktuelle politische Situation in Weißrussland aus der Sicht Litauens, der Ukraine und Russland sowie eine gesamteuropäische Betrachtung.
Am 9. August fanden in der Republik Belarus Präsidentschaftswahlen statt. Der amtierende Präsident Alexander Lukaschenko beansprucht 80% der Stimmen, die allerdings weitgehend als manipuliert gelten. Es wurde über eine Reihe kritischer Verstöße berichtet, es waren keine unabhängigen Beobachter zugelassen, und der Wahlprozess entsprach nicht den internationalen Demokratiestandards. Eine Reihe von bereits publizierten Beweisen zeigt auf, dass die Wahl weder fair noch transparent abgelaufen ist.
Die Bürger von Belarus haben das Wahlergebnis nicht akzeptiert und sind auf die Straße gegangen, um friedlich gegen Lukaschenko zu protestieren, der das Land seit 25 Jahren mit eiserner Faust regiert. Die Demonstranten wurden mit Polizeibrutalität und übermäßiger Gewalt konfrontiert. Währenddessen ist Lukaschenkos politische Gegnerin Swetlana Tichanowskaja aus Sicherheitsgründen nach Litauen geflohen.
Das weißrussische Regime gilt als das autoritärste Land Europas und wird oft als die letzte „Diktatur in Europa“ gebrandmarkt. In den letzten drei Jahrzehnten erlebte Belarus eine ganze Reihe manipulierter Wahlen, doch diesmal ist die Situation eine andere, denn die Menschen haben genug vom Lukaschenko-Regime. Ein hohes Maß an Korruption und Vetternwirtschaft, eine hohe Arbeitslosigkeit und das katastrophale Missmanagement im Zuge der Corona-Pandemie haben die Menschen zunehmend skeptischer und unzufriedener mit dem Regime werden lassen.
Lukaschenko hat zu harten Maßnahmen gegriffen, wie der Abschaltung des Internets und der Entsendung nationaler Truppen, wobei letzteres als radikalste Maßnahme seiner Herrschaft bewertet wird. Während er die belarussische Wirtschaft von oben herab untergraben hat, indem er Belarus offline gestellt hat (der IT-Sektor macht 6% des belarussischen BIP aus), haben Arbeiterstreiks von unten Druck ausgeübt, indem sie das Land nur noch von seinen begrenzten Öl- und anderen Reserven leben lassen.
Die einzige Institution, die zwischen dem Regime und den Bürgern steht, ist die Polizei, ihre Loyalität der einen oder anderen Partei gegenüber wird die Zukunft des Landes bestimmen.
Während die politische Situation noch immer nicht absehbar ist, reflektieren die Young Professional Advisors die aktuelle Situation in Belarus aus verschiedenen Blickwinkeln, darunter aus der Sicht der Europäischen Union, der litauischen, ukrainischen und russischen Perspektive. Alle Autoren liefern einzigartige Einblicke aus einer lokalen Perspektive.
Ein Blick auf Belarus aus russischer Perspektive
Russland befindet sich in einer einzigartigen Position. Die Regierung ist sehr daran interessiert, wie sich die Situation in Belarus weiterentwickelt und interpretiert die politische Entwicklung als unmittelbare Bedrohung seiner eigenen Sicherheitsarchitektur. Russland hat sein Interesse an den so genannten Ländern des „nahen Auslands“, den ehemaligen Republiken, die nach der Auflösung der Sowjetunion entstanden sind, in hohem Maße sichergestellt. Die besondere Konstellation der aktuellen Faktoren zwingt Moskau jedoch zu einer abwartenden Haltung.
Belarus dient als Pufferstaat zwischen den NATO-Staaten und Russland. Moskau kann es sich nicht leisten, seine Beziehungen zu Belarus zu verschlechtern und hat nicht die Absicht, sich in seine inneren Angelegenheiten einzumischen. Zum einen scheinen sich die Unruhen bisher ausschließlich gegen Lukaschenko zu richten. Obwohl Russland an der Fortsetzung der Zusammenarbeit mit seinem langjährigen Partner interessiert ist, ist es in ähnlicher Weise auch an einer weiteren Integration von Belarus und an der Erhaltung des bestehenden Machtgleichgewichts interessiert, das nun von der Opposition angefochten wird. Der zerbrechliche Anti-Lukaschenko-Aufstand droht antirussisch zu werden. Dennoch kann der russische Präsident Wladimir Putin angesichts der großen Aufmerksamkeit der westlichen Partner keine völlig passive Haltung einnehmen.
Die internen Unruhen in Belarus können Konsequenzen für Russland haben. Moskau befürchtet nun, dass das belarussische Beispiel denjenigen Russen als Blaupause dienen könnte, deren Skepsis gegenüber der gegenwärtigen Regierung beständig gewachsen ist. Ein möglicher Erfolg der Demonstranten in Belarus könnte die in Moskau herrschende „Stabilität“ gefährden.
Die Unruhen in Belarus sind eine innenpolitische Angelegenheit, auch wenn Lukaschenko seine ständige Besorgnis über die Bewegung der NATO entlang der belarussischen Grenzen zum Ausdruck bringt. Putin wiederum sieht von jeder direkten Einmischung ab und erwartet, dass der Westen seinem Beispiel folgt. Putins Bereitschaft, als Teil der Unionsstaaten Russland und Weißrussland und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) Unterstützung zu leisten, kann aus mehreren Gründen sowohl für die Demonstranten als auch für den Westen als einschüchternder Faktor gewertet werden. Es genügt zu erwähnen, dass Mitglieder der OVKS nur im Falle einer Aggression von außen auf ihre Streitmacht zurückgreifen können.
Trotz der Sorge, dass Russland sich in den Konflikt einmischen könnte, zieht Putin es offenbar vor, dass die Belarussen ihren politischen Aufruhr aus eigener Kraft überstehen. Für Putin scheint der Führungswechsel nicht relevant, solange der Nachfolger Russland wohlwollend gegenübersteht und an einer weiteren Integration interessiert ist. Schließlich war es Lukaschenko, der sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen Moskau gegenüber aggressiv verhielt, nicht die Opposition.
Ist Belarus die nächste Ukraine?
Wie andere europäische Länder hat auch die Ukraine Zweifel an der Legitimität der Präsidentschaftswahlen in Belarus. In einem Interview für Euronews schlug der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski Neuwahlen vor. Selenski erklärte, dass, wenn er Lukaschenko wäre, er in einem Monat eine weitere Abstimmung abhalten und internationale Beobachter einladen würde. Laut Selenski sollte Lukaschenko Neuwahlen nicht fürchten. Wenn er 80 % der Stimmen bekommen habe, dann könnte er es noch einmal schaffen, diesmal auf transparente Weise.
Später verkündete der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba, dass die Ukraine den Dialog mit Belarus eingefroren habe. Auch wenn Belarus die Annexion der ukrainischen Krim durch Russland nicht anerkannte und Diskussionen über den Konflikt im Donbas veranstaltete, brachte es Lukaschenko nicht die gewünschte Unterstützung seitens der Ukraine. Gleichzeitig zog Kuleba die Möglichkeit in Betracht, dass Belarussen, die der politischen Verfolgung im eigenen Land entgehen wollten, die ukrainische Grenze überqueren und eine Sonderregelung zu Einreise und Aufenthalt erhalten könnten.
Die Proteste in Belarus erinnern an die ukrainische Revolution im Jahr 2014. Beide Nationen wollten mehr Demokratie in ihren Ländern. Der Unterschied liegt in der Art und Weise, wie sie ins Leben gerufen und organisiert wurden. Zunächst einmal unterstützten in der Ukraine viele Abgeordnete die Opposition, während in Belarus die parlamentarische Opposition schwach ist. Darüber hinaus bauten die Menschen in der Ukraine Zelte auf und demonstrierten pausenlos, in Belarus hingegen werden Zeltlager und Volksversammlungen durch die Regierung mit brutalen Mitteln verboten. Schließlich war in der Ukraine die Armee ein entscheidender Faktor, die sich für neutral erklärte, während dies in Belarus noch nicht geschehen ist.
Die Ukraine strebt engere Beziehungen mit der EU an, während Belarus jegliche Hilfe der EU ablehnt, weil das Regime das Engagement der EU als direkte Bedrohung für die Regierung betrachtet. Die Ukraine wünscht Frieden und Stabilität in Belarus. Lukaschenko hört jedoch nicht auf die Menschen in seinem Land und zeigt sein militärisches Potential, indem er Demonstranten wörtlich und auch faktisch verletzt.
Litauen ruft
Litauen war das erste Land, das auf die Situation in Belarus reagierte. Litauen und Belarus blicken auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück, die dazu beigetragen hat, trotz ihrer Unterschiede ein besonderes Band zu knüpfen. Der symbolische Akt dieser massiven Unterstützung fand am 23. August 1989 statt, dem Gedenktag des Molotow-Ribbentrop-Pakts. Damals, als die baltischen Staaten noch von der Sowjetunion annektiert waren, bildeten Litauen, Lettland und Estland eine Menschenkette, die als der baltische Weg von Vilnius nach Tallinn bezeichnet wird. An dem Tag versammelten sich mehr als zwei Millionen Menschen. Um die friedlichen Proteste der Belarussen zu unterstützen, bildeten in diesem Jahr mehr als 50.000 Menschen in Litauen eine 35 Kilometer lange Menschenkette von Vilnius bis zur Grenze zu Belarus. Der Aktion schlossen sich litauische Gemeinden und Unterstützer aus rund 27 weiteren Ländern an.
Obwohl das Lukaschenko-Regime Litauen die Schuld für die Provokation, die Mobilisierung von Truppen oder den Gebrauch propagandistischer Argumente von ausländischen Beeinflussern gibt, spiegelt Litauens Position den Kampf für Freiheit, Respekt und grundlegende Menschenrechte wider. Es scheint kein geopolitisches Machtspiel zu sein, die Litauer, einschließlich der Bürger und Behörden, fühlen sich mit den Belarussen leidenschaftlich und unterstützend verbunden, da die meisten von ihnen den gleichen Weg in Richtung Demokratie, Unabhängigkeit und Souveränität gegangen sind.
Vilnius, die Hauptstadt Litauens, ist als einer der Hauptbefürworter des EU-Programms der Östlichen Partnerschaft und auch als Hauptstadt der belarussischen Opposition bekannt. Sie versteckt sich hier vor dem Regime und bildet zivilgesellschaftliche Initiativen. Auch im Fall der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Svetlana Thikhanovskaya hatten sie und ihre wichtigsten Mitarbeiter litauische Visa, ihre Kinder wurden bereits vor der Wahl nach Litauen gebracht, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Gegenwärtig wohnt sie in Vilnius und verfasst im Namen der Demonstranten sowohl an das Lukaschenko-Regime als auch an das internationale Publikum gerichtete Botschaften.
Litauen ist in Zusammenarbeit mit regionalen Partnern, insbesondere Polen, der Ukraine, Lettland und Estland, zu einem Vermittler und ‚Agendasetter’ für die EU geworden, wenn es um die Reaktion auf die politische Krise in Belarus geht. Eine feste Position zu haben und schnell mit offen erklärten Punkten zu reagieren (Dringlichkeitssitzungen abzuhalten, individuelle Sanktionen zu verhängen, die Wahl als unrechtmäßig zu bezeichnen) sind, im Vergleich zu den eher späten und gemäßigten Stimmen aus anderen EU-Mitgliedstaaten, zu wichtigen Antriebskräften geworden.
Die Europäische Union und Belarus
Die EU unterstützt die Selbstbestimmung des belarussischen Volkes und seinen „Wunsch nach demokratischem Wandel“, ohne dabei jedoch als Akteur selbst innerhalb Weißrusslands größere Maßnahmen zu ergreifen. Bisher scheint die EU die Ereignisse in Belarus mit Vorsicht anzugehen und zu versuchen, aus den schlechten Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen, wie zum Beispiel aus den Vorfällen in der Ukraine, wo Europa machtlos war, das Geschehen vor Ort zu beeinflussen.
Am Mittwoch, dem 19. August 2020, unternahm die Europäische Union einen Schritt in die richtige Richtung, indem sie einen Sondergipfel zu Belarus abhielt, auf dem die EU die Ergebnisse der jüngsten Wahlen ablehnte, die sie als „weder frei noch fair“ bezeichnete. Gleichzeitig drängen die Parteien, die über eine gemeinsame Mehrheit im Europäischen Parlament verfügen, auf Neuwahlen, die von unabhängigen Gremien überwacht werden sollen.
Die EU bereitet auch Sanktionen gegen Personen vor, die an den schweren Menschenrechtsverletzungen und der Gewalt in Belarus beteiligt waren. Es ist erwähnenswert, dass derzeit keine Sanktionen gegen Unternehmen oder das ganze Land in Erwägung gezogen werden. Jedoch wird die Europäische Kommission dem Lukaschenko-Regime 63 Millionen Dollar entziehen und einen Teil dieses relativ geringen Betrags an unabhängige Medien, Gewaltopfer und die Zivilgesellschaft weiterleiten.
Die EU muss allerdings bedenken, dass es bei den Protesten in Belarus nicht um den Platz des Landes im geopolitischen Kampf zwischen Russland und dem Westen geht. Es geht um den Kampf zwischen den Bürgern von Belarus und dem Lukaschenko-Regime. Was wir aus den Erfahrungen der Vergangenheit wissen, ist, dass Sanktionen in der Regel nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Außerdem könnte das Lukaschenko dazu bringen, in Putins Arme zu fallen, der sich um die Möglichkeit einer erfolgreichen prowestlichen Revolution in Belarus sorgt. Immerhin war Putin der erste, der Lukaschenko zu seinem Sieg gratulierte, bevor die Ergebnisse endgültig feststanden.
In Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheits- und geostrategischen Bedenken sollte die EU eine aktivere Rolle gegenüber Belarus übernehmen und mehr tun, als nur Sanktionen gegen Belarus zu verhängen. Die EU sollte auf eine engere Koordinierung zwischen der EU und internationalen Organisationen drängen, um die sozialen Unruhen und Proteste in Belarus anzugehen. Eine enge Koordinierung zwichen der EU und internationalen Organisationen ist von entscheidender Bedeutung, um weitere Gewaltanwendung seitens Lukaschenkos gegen Zivilisten zu verhindern. Darüber hinaus könnte der Westen Druck auf Lukaschenko ausüben, indem er finanzielle Anreize und weitere Unterstützung für das Hilfspaket in der Corona-Krise anbietet. Vor allem aber muss der Westen eine klare Botschaft an Putin senden, nicht einseitig in Belarus zu intervenieren, was er im Fall der Ukraine versäumt hat.
Eine Botschaft von United Europe
Die Situation in Belarus wirkt sich auf ganz Europa aus. Die schockierend gewalttätige Reaktion auf die friedlichen Proteste und Folterungen, die die Sicherheitskräfte gegen die Bürger des Landes verübt haben, muss verurteilt werden.
Als Young Professional Advisors von United Europe, die aus allen Teilen des Kontinents kommen, bringen wir unsere tiefe Besorgnis über die Situation in Belarus zum Ausdruck, die wir seit dem Wahltag verfolgen.
Während die Menschen weiterhin friedlich für ihre Rechte protestieren und neue demokratisch organisierte, freie und transparente Wahlen fordern, rufen wir die belarussischen Behörden auf, alle Gefangenen bedingungslos freizulassen und den Schwerverletzten alle notwendige medizinische Unterstützung zukommen zu lassen.
Wir begrüßen die von der EU unternommenen Schritte zur Unterstützung der belarussischen Nation und fordern die Behörden auf, für die Verletzung der Menschenrechte und die Anwendung übermäßiger Gewalt gegen friedliche Demonstranten Verantwortung zu übernehmen.
Die in den letzten Tagen ergriffenen zivilen Maßnahmen zeigen, dass die belarussische Gesellschaft Offenheit und Freiheit verdient. Daher sollten alle notwendigen diplomatischen Instrumente genutzt werden, um Kompetenzen aufzubauen und die Führung und den zivilen Raum zu stärken.
Autoren:
Stelios Kavvadias, Karina Matvienko, Yevgen Lantsuzovskyy, Justinas Lingevicius, Mihaly Szabo, Visar Xhambazi
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