Frankreich ist ein gespaltenes und frustriertes Land. Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen fällt in der Stichwahl am 7. Mai die Entscheidung zwischen zwei Kandidaten, die beide nicht aus den zwei traditionellen Parteien kommen, in allen anderen Fragen aber nicht gegensätzlicher sein könnten: Emmanuel Macron, der liberale Pro-Europäer, und Marine Le Pen, die auf Nationalstolz und Abschottung setzt.
Was zu denken gibt: von den elf Kandidaten, die in der ersten Runde zur Wahl standen, warben acht in ihrem Wahlprogramm mit antieuropäischen Ideen. Knapp die Hälfte aller Wähler stimmten gestern für extreme Parteien, die in der einen oder anderen Form die Europäische Union oder den Euro ablehnen. Dazu gehören Jean-Luc Mélenchon (19,5 %), Marine Le Pen (21,6 %), sowie unabhängige Kandidaten, die zusammengenommen auf ca. 7 % der Stimmen kamen.
Seit der Entscheidung Großbritanniens, aus der Europäischen Union auszuscheiden, elektrisiert die Idee eines „FR-exits“ viele Franzosen. Insbesondere Marine Le Pen, hauptberuflich Mitglied des Europäischen Parlaments, liebäugelt mit der Idee, Frankreich müsse sich vom Joch der EU und der Euro–Gruppe befreien und seine volle Souveränität zurückerlangen.
Jungwähler für Le Pen
Mit solchen Parolen konnte Le Pen es erreichen, in die Stichwahl einzuziehen. Trotzdem schien sie enttäuscht, erreichte sie in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 23. April doch nur den zweiten Platz. Es stellt sich jetzt die Frage, wieweit sie in der Stichwahl außerhalb ihres klassischen Wählerreservoirs Stimmen enttäuschter Republikaner oder von Linksaußen abschöpfen kann.
Emmanuel Macron, der junge Shootingstar, Gründer seiner eigenen Bewegung „En Marche“, konnte sich mit seinem Wahlslogan „weder rechts noch links“ klar von den etablierten Parteien abgrenzen und insbesondere bei jungen Wählern von seiner „Marktfrische“ profitieren. Mit 24,1 % der Stimmen positionierte er sich deutlich vor Marine Le Pen. Er ist überzeugter Europäer, hat aber ganz eigene Vorstellungen von der Europäischen Union. Mit ihm dürften die Forderungen nach einer europäischen Wirtschaftsregierung, einem Budget der Eurozone und Eurobonds lauter werden.
Wie die Stichwahl zwischen Macron und Le Pen ausgehen wird, ist noch nicht entschieden, auch wenn die Umfragen das Ergebnis mit 64% zu 36% zugunsten Macrons vorhersagen. Fillon und andere führende Républicains haben noch am Wahlabend zur Wahl Macrons aufgerufen, um Le Pen zu verhindern. Ob die konservativen Wähler diesem Aufruf folgen, ist noch ungewiss. Viele könnten zu Hause bleiben, manche versucht sein, Le Pen zu wählen.
Überraschenderweise sind es vor allem die Erst- und Jungwähler, also Menschen zwischen 18 und 24 Jahren, die sich überdurchschnittlich stark von den Wahlversprechens Le Pens beeindrucken lassen. Junge Menschen, die im Frieden und wirtschaftlichen Wohlstand Europas aufgewachsen sind, für die das Reisen ohne Grenzkontrollen, das Arbeiten und Studieren im europäischen Ausland und der Euro selbstverständlich und die blutigen Schlachten des Ersten und Zweiten Weltkriegs nichts als Gedenktage sind.
Land in der Krise
Daher stellt sich die Frage, was falsch lief während der letzten Jahren in dieser stolzen “Grande Nation“, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurogruppe. Was sind die Ursachen dieser überall spürbaren Frustration unter den Wählern, dieser Zerrissenheit in der Gesellschaft und dieser weitverbreiteten Hoffnungslosigkeit insbesondere unter den jungen Franzosen?
Es ist das Versagen der politischen Eliten. Die etablierten Parteien haben es nicht vermocht, das Land zu reformieren, um es für die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu rüsten. Versagt haben sowohl dieSozialisten (PS), die mit ihrem Präsident Francois Hollande für die Misere der letzten fünf Jahre verantwortlich waren, als auch die Republikaner (LR), die ihrer Rolle als Opposition nicht gerecht wurden, nachdem sie zwischen 2007 und 2012 unter Präsident Nicolas Sarkozy die Regierungsverantwortung getragen hatten.
Frankreich hat, im Gegensatz zu vielen andere Staaten in der EU, wirtschaftlich das Vorkrisenniveau noch nicht wieder erreicht. Die Arbeitslosigkeit liegt bei knapp zehn Prozent. Noch viel schlimmer ist, dass knapp ein Viertel der jungen Menschen ohne Job ist. Das bedeutet, dass jeder vierte junge Franzose unter 25 jeden Morgen in Hoffnungslosigkeit aufwacht, statt dafür anerkannt zu werden, dass er durch Erwerbstätigkeit einen sinnvollen Beitrag für die Gesellschaft leistet. Es verwundert nicht, dass dieser Frust, am Wohlstand nicht partizipieren zu können, den Nährboden für radikale Ideologien bereitet.
Angst vor Terror
Frankreich ächzt unter einer an die 100% des BIP gehenden Schuldenlast. Seit 1974 hat kein Finanzminister mehr einen ausgeglichenen Haushalt vorgelegt. Nach Berechnungen des IWF wird auch in diesem Jahr die 3%-Defizitgrenze nicht eingehalten. Der Ruf nach strengerer Haushaltsdisziplin zur Einhaltung der Euro-Stabilitätskriterien wurde im Wahlkampf gerne als Bevormundung durch Brüssel interpretiert.
Die Staatsquote liegt bei 57% und ist damit eine der höchsten im OECD-Vergleich. Frankreich hat stärker mit der fatalen Entwicklung der Deindustrialisierung zu kämpfen (der Anteil der Industrie liegt heute bei nur noch knapp 10%) als seine europäischen Nachbarn. Dennoch hat es kein Politiker der letzten Jahrzehnte geschafft, die nötigen Arbeitsmarktreformen anzupacken, Bürokratie abzubauen, Ausgaben zu senken sowie Innovationen und Unternehmensgründungen zu fördern. Im Wahlkampf überboten sich nun die extremistischen Parteien von links wie vor rechts mit Konzepten wie „intelligentem Protektionismus“, dem Aufbau von Zollschranken und Handelsbarrieren oder staatlich gelenkter „nationaler Re-Industrialisierung“.
In die wirtschaftliche Situation mischt sich das Gefühl der Unsicherheit. Die Angst vor Zuwanderung, Radikalisierung und Terror spielte vor allem gegen Ende des Wahlkampfs eine wichtige Rolle. Das Scheitern der Einwanderungspolitik der letzten Jahrzehnte nutzte vor allem Marine Le Pen, die lautstark vor Überfremdung und Asylanten warnte.
Was auf Macron zukommt
Die Spitzenkandidaten der beiden früheren Regierungsparteien, der Sozialisten und der Republikaner, konnten zusammen nur knapp über ein Viertel der Wählerstimmen auf sich vereinen. Sowohl François Fillon (LR, 20%) als auch Benoît Hamon (PS, 6,2%) waren in parteioffenen Vorwahlen zu Spitzenkandidaten nominiert worden. Dass sie dennoch nicht mehr Stimmen gewinnen konnten, ist Ausdruck der allgemeinen Frustration über die politischen Eliten.
So könnte nun Emmanuel Macron als jüngster Präsident der Fünften Republik in den Elysée-Palast einziehen. Auf ihm ruhen große Hoffnungen und Erwartungen. Ob es ihm gelingen wird, diese zu erfüllen, indem er das Land durch schmerzhafte, aber dringend notwendige Reformen führt, muss er noch zeigen. Dafür braucht er eine parlamentarische Mehrheit bei den Wahlen zur Nationalversammlung, die in zwei Wahlgängen im Mai und Juni stattfinden.
Mit einem lockeren Wahlbündnis ohne Parteistrukturen, wie es „En Marche“ derzeit ist, dürfte dies nicht einfach sein, wenn ihn nicht ein Sturm der Begeisterung auch bei diesen Wahlen zum Erfolg führt. Nicht auszuschließen ist, dass zum ersten Mal in der Fünften Republik ein Präsident schon zu Beginn seiner Amtszeit ohne eigene Mehrheit im Parlament dasteht und in eine wie auch immer geartete „Cohabitation“ gezwungen wird.
Das ist allerdings nicht das, was ich mir für Frankreich wünsche, dieses großartige Land, in dem ich seit vier Jahren lebe.
Eine Wunschliste für Frankreichs Zukunft
Ich wünsche mir, dass Emmanuel Macron im zweiten Wahldurchgang eine deutliche Mehrheit der Wähler hinter sich versammeln kann. Ich wünsche mir, dass es ihm als Präsident gelingt, die Zerrissenheit der französischen Wählerschaft zu heilen, und er den Menschen Mut und Zuversicht vermitteln kann.
Ich wünsche mir, dass ein Präsident Macron gleich zu Beginn seiner fünfjährigen Amtszeit die notwenigen Arbeitsmarktreformen vorantreibt und eine kluge und nachhaltige Haushaltspolitik einleitet. Ich wünsche mir, dass er standhaft bleibt, wenn bei seinen Reformbemühungen die Gewerkschaften das Land mit Streiks lahmzulegen drohen. Ich wünsche mir, dass er ein Investitionsklima schafft, das Menschen motiviert, in Frankreich zu gründen und zu investieren. Es gibt so viel Kreativität und Erfindergeist in diesem Land! Ich wünsche mir, dass ein Präsident Macron dies erkennt und die dazu nötigen politischen Rahmenbedingungen schafft.
Ich wünsche mir, dass Emmanuel Macron ein verlässlicher Partner auf europäischer Ebene wird, damit die auch in Brüssel notwendigen Reformen vorangetrieben werden können und die Europäische Union und der Euro eine dauerhafte positive Zukunft haben.
Ich träume von einem Frankreich, das nach fünf harten Reformjahren unter einem Präsident Macron, die positiven Silberschweife am Horizont erkennt. Ein Land, das einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, das junge Menschen aus aller Welt anzieht, das die Errungenschaften der europäischen Gemeinschaft schätzt und pflegt. Ich träume von einem Frankreich, in dem ein gesellschaftlicher Zusammenhalt spürbar ist, weil es seine Integrationsprobleme gelöst hat; ein großartiges Land im Herzen von Europa, deren Wähler sich 2022 nicht noch einmal von radikalen politischen Parteien mit antieuropäischen Ideen verführen lassen.
Dr. Julia Reuss, Mitglied von United Europe, lebt seit 2013 in Paris.