„Wenn Europa nicht produktiver wird, werden wir gezwungen sein, uns zu entscheiden. Wir werden nicht gleichzeitig führend in neuen Technologien, ein Leuchtturm klimatischer Verantwortung und ein unabhängiger Akteur auf der Weltbühne sein können. Wir werden unser Sozialmodell nicht finanzieren können. Wir werden einige, wenn nicht alle unserer Ambitionen zurückschrauben müssen.“
Mario Draghi – „The future of European competitiveness“
Die Reduzierung der regulatorischen Belastung hat Priorität
Europa hat seit der Jahrtausendwende an wirtschaftlicher Dynamik gegenüber den Vereinigten Staaten verloren. Das reale verfügbare Einkommen ist in den USA seit dem Jahr 2000 fast doppelt so stark gewachsen wie in der EU, die Arbeitsproduktivität der EU sank von 95 % des US-Niveaus im Jahr 1995 auf heute unter 80 %, und besonders drastisch ist der Unterschied im Technologiesektor: Europa hat rund 130 Unicorns, die USA über 600.
Neben einem relativen Rückgang des Lebensstandards ist die dringendere Sorge die schwierigen Entscheidungen, die sich aus den Investitionserfordernissen angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ergeben.
Technologischer Fortschritt und dessen Kommerzialisierung sind zugleich Ursache und Lösung dieser Herausforderung für Europa. Würde man die Produktivitätsgewinne durch Big Tech herausrechnen, wären Europa und die USA in diesem Jahrhundert nahezu gleichauf gewachsen. Was genau die Entwicklung großer Tech-Unternehmen in Europa und die Diffusion digitaler Technologien behindert, wird im „Draghi Report“ zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit detailliert beschrieben:
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Europäische Forschungseinrichtungen erzielen zu wenig Spitzenleistungen: Nur drei EU-Institutionen zählen laut Nature Index 2022 zu den globalen Top 50.
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Herausragende Forschung wird nicht in weltweit führende Unternehmen überführt (Kommerzialisierung).
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Der fragmentierte Binnenmarkt erschwert es Scale-ups, kritische Größe zu erreichen – der natürliche Skalierungsweg für VC-finanzierte Unternehmen führt daher oft in die USA.
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Engpässe in digitaler und physischer Infrastruktur sowie ein Mangel an größeren Risikokapitalpools drohen Europa weiter zurückfallen zu lassen.
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Die regulatorische Belastung ist hoch und trifft insbesondere KMU und Start-ups unverhältnismäßig stark.
Diese Herausforderungen – insbesondere hohe Bürokratielasten und ein fragmentierter Binnenmarkt – liegen direkt in der Verantwortung europäischer Regierungen. Sie sollten eigentlich „Low Hanging Fruit“ sein: Anders als Forschung, digitale Infrastruktur oder Kommerzialisierung hängt Bürokratieabbau ausschließlich von politischen Entscheidungen ab. Effizientere Regulierung ist zudem prinzipiell politisch neutral – die politische Richtung ändert sich dadurch nicht. Daher ist sie über das gesamte politische Spektrum hinweg eine populäre Forderung.
Die Auswirkungen wachsender regulatorischer Belastung
Für Start-ups kann Bürokratie ein entscheidendes Wachstumshemmnis sein. Junge Unternehmen tragen aufgrund begrenzter Ressourcen unverhältnismäßige Kosten, was mehrere Bereiche betrifft:
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Sie bindet Fokus und Zeit des frühen Kernteams – der wohl wichtigsten Ressource eines Start-ups.
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Direkte Kosten entziehen Mittel aus dem operativen Geschäft.
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Entscheidende Geschwindigkeit („time to action“) wird durch lange Genehmigungsprozesse ausgebremst.
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Große etablierte Unternehmen verfügen über Ressourcen, um Compliance-Aufwände leicht zu tragen – oder sogar Einfluss auf deren Ausgestaltung zu nehmen.
Mehrere Studien bestätigen diese Belastung. Ein Beispiel: Der Jahresbericht des deutschen Normenkontrollrats schätzt, dass die Compliance-Kosten allein in Deutschland zwischen 2022 und 2023 um 9,3 Milliarden Euro gestiegen sind. Diese Belastungen führen unmittelbar zu geringerer Agilität – und letztlich zu weniger Scale-ups.
Was Start-up-Gründer fordern – und warum es logisch ist:
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Einfachere Prozesse, weniger Berichtspflichten und schnellere Rückmeldungen der Behörden
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Ein standardisiertes 28. Regime oder „EU Inc.“, das innovativen Unternehmen erlaubt, EU-weit unter einem einheitlichen Rahmen zu operieren
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Harmonisierung von Einwanderungs- und Arbeitsrecht zur leichteren Gewinnung globaler Talente
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Vereinfachung von Mitarbeiterbeteiligungen
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Vereinfachter und digitaler Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen
Die Probleme sind bestens erforscht – ebenso wie jahrzehntelange politische Versprechen, sie zu lösen. Und dennoch: Die Bürokratie wächst weiter.
Warum ist Bürokratieabbau so schwer?
Forschungen der öffentlichen Verwaltung (z. B. OECD-Studien) zeigen: Bürokratie wächst tendenziell weiter, sofern keine aktiven Gegenmaßnahmen wie systematische Belastungsanalysen, Sunset-Klauseln oder Entbürokratisierungsprogramme fest verankert werden. Während Länder wie Dänemark oder die Niederlande systematische ex-ante- und ex-post-Prüfungen neuer Gesetze durchführen, fehlt dies häufig in anderen Staaten.
Zwar existieren auf deutscher und EU-Ebene teilweise Instrumente zur Sicherstellung praktikabler Gesetze, doch bindende Mechanismen fehlen. Das Standardkostenmodell (SCM) kann genutzt werden, um Verwaltungsaufwand neuer Gesetze zu messen; doch ohne verbindliche Vorgaben für effiziente Umsetzung entsteht langfristig regulatorischer Wildwuchs. Für ein dauerhaft effizientes Verwaltungssystem müssen Kosten-Nutzen-Analysen und ex-post-Evaluationen verpflichtend und konsequent angewandt werden.
Erfolgreiche Digitalisierung und Bürokratieabbau: Estland und Dänemark
Trotz vieler Hürden gelten Estland und Dänemark als Beispiele dafür, wie politischer Wille, digitale Werkzeuge und messbare Ziele Vorbilder für die gesamte EU liefern können.
Estland: Digitalisierung als Lösung
Nach der Unabhängigkeit 1991 fehlten Ressourcen und alte Verwaltungsstrukturen. Estland entschied sich bewusst für ein digitales „Leapfrogging“-Modell:
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Unternehmensgründungen sind vollständig online in meist unter 20 Minuten möglich.
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Das Once-Only-Prinzip verpflichtet Behörden, vorhandene Daten wiederzuverwenden und Mehrfachabfragen zu vermeiden – ein massiver Vorteil für Unternehmen.
Durch elektronische Signaturen und nahtlose digitale Prozesse hat Estland die administrative Last deutlich reduziert.
Dänemark: Messbarer Abbau
Dänemark setzte ab 2001 auf systematische Reduktion bestehender Regeln. Ziel: Senkung der administrativen Kosten für Unternehmen um 25 % in zehn Jahren. Alle Ministerien mussten Berichtspflichten erfassen, Aufwand messen und Regeln neu gestalten. Eine zentrale Behörde überwacht die Qualität.
Das Ergebnis: Dänemark zählt heute zu den weltweit effizientesten Administrationen mit sehr niedrigen Verwaltungskosten im Verhältnis zum BIP.
Skalierung, Föderalismus und Pfadabhängigkeit
Estland und Dänemark zeigen, dass Vereinfachung und Digitalisierung funktionieren. Doch diese Modelle lassen sich nicht einfach auf größere, föderale Staaten wie Deutschland oder die EU übertragen.
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Estland (1,3 Mio. Einwohner) konnte nach 1991 viele Systeme neu aufbauen.
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Dänemark (6 Mio. Einwohner) hat keinen Föderalismus und dadurch schnellere Reformwege.
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Deutschland hingegen hat 16 Bundesländer mit eigener Gesetzgebung und Verwaltung.
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Auf EU-Ebene potenziert sich die Komplexität: 27 Mitgliedstaaten müssen sich einigen und national umsetzen.
Dänemarks Erfahrungen zeigen jedoch: Mit systematischer ex-ante- und ex-post-Evaluation lässt sich Bürokratie wirksam senken. Das Problem ist nicht Wissen – sondern Skalierung.
Was jetzt getan werden kann – und was als Nächstes kommt
Auf EU-Ebene braucht es ein kohärentes quantitatives Rahmenwerk zur Bewertung von Kosten und Nutzen neuer Gesetze. Zwar nutzt die EU-Kommission das SCM, doch es fehlen verpflichtende Leitplanken. Parlament und Rat verfügen über keinerlei standardisierte Methodik.
Schnell wirksame Maßnahmen können gezielt an den größten Hebeln ansetzen – während parallel ein umfassendes Programm für bessere Gesetzgebung aufgebaut wird.
Ein solcher Hebel ist „EU Inc.“ – ein Vorschlag für ein einheitliches europäisches Unternehmensregime, das Gründung, Beschäftigung und Besteuerung EU-weit harmonisieren soll. Das würde die regulatorische Komplexität für Scale-ups deutlich senken – ein zentrales Problem, das der Draghi-Bericht hervorhebt.
Die Initiative wurde 2024 von Ursula von der Leyen unterstützt. Doch der Erfolg hängt davon ab, ob sie als Verordnung oder Richtlinie umgesetzt wird.
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Eine Richtlinie würde 27 nationale Umsetzungsvarianten erzeugen – also erneut Fragmentierung.
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Eine Verordnung könnte nationale Kernkompetenzen berühren und daher am Rat scheitern.
Ein intelligenter Kompromiss ist nötig, um sowohl die Integrität des Binnenmarktes zu stärken als auch nationale Befindlichkeiten zu berücksichtigen.
Europa muss handeln
Die Dringlichkeit ist klar, die Vorschläge liegen auf dem Tisch – von strukturellen Reformen bis zu kurzfristigen Entlastungen. Bürokratie ist das eine Hindernis, das Regierungen vollständig selbst lösen können. Wenn es nicht gelingt, dieses Problem anzugehen, werden kompliziertere Herausforderungen kaum zu bewältigen sein.
Mit wirtschaftspolitischen Reformen im Fokus der öffentlichen Debatte hat Europa jetzt die Chance zu zeigen, dass es handlungsfähig ist. Ein sichtbares Bekenntnis zum Bürokratieabbau wäre ein starkes Signal. Die pragmatischen Vorschläge europäischer Unternehmer verdienen Gehör – und Umsetzung.
Autor: Simon Costa, Vice President bei Pava Partners & Young Leader bei United Europe e.V.
„Das Mentoring-Programm von United Europe gab mir eine neue Perspektive auf meine berufliche Entwicklung und half mir, zentrale Herausforderungen klarer zu formulieren. Durch regelmäßige, vertraute Gespräche konnte ich zuvor abstrakte Fragen systematisch angehen. Mein Mentor aus einem anderen Sektor brachte frische Blickwinkel und half mir, meinen Weg in einer schwierigen Zeit für meine Branche neu zu denken. Ich kann die Teilnahme nur empfehlen.“

