Die zentrale Rolle des Staates und seine Dominanz über die Gesellschaft sind die Schlüsselelemente in Präsident Recep Tayyip Erdogans Plänen für eine ‘Neue Türkei’. Herr Erdogan, der im August 2014 der erste öffentlich gewählte Präsident des Landes wurde, muss nun der Proteste Herr werden, die sich gegen seine autokratische Herrschaft erhoben haben. Zudem muss er die Verhandlungen mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) fortsetzen und sich mit den Problemen beschäftigen, die durch die Konflikte im Nachbarland Syrien verursacht werden, wenn er sein Projekt bis 2023 vollenden will – dem Jahr, in dem die Nation ihr hundertjähriges Bestehen feiert.
RECEP TAYYIP ERDOGAN ist der erste türkische Präsident, der direkt vom Volk gewählt wurde. Er glaubt, dass ihm dadurch ein weitreichendes Mandat übertragen wurde. Herr Erdogan verfolgt ein Projekt unter dem Schlagwort ‘Neue Türkei’, demzufolge die türkische Republik tiefgreifend umgestaltet werden soll. Seine Zielsetzung ist es, das Land bis 2023 – dem Jahr der Einhundertjahrfeier der Gründung der türkischen Republik – zu einer muslimischen Regionalmacht und zur zehntstärksten Wirtschaft der Welt zu machen. Seine Pläne haben die Politik und die Gesellschaft polarisiert. Auch wenn er noch die Mehrheit der Türken hinter sich hat, so haben die inneren Spannungen doch zugenommen. Die Kurdenfrage bleibt ein potentiell explosives Thema. Die Anwesenheit von 1,5 Millionen Flüchtlingen aus Syrien stößt auf einen wachsenden Widerstand. Für die politische Zukunft von Herrn Erdogan wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob es der AKP bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 gelingen wird, sich eine Zweidrittelmehrheit zu sichern. Wenn sie dieses Ziel erreicht, könnte Herr Erdogan seine langfristige Position stärken, indem er eine neue Verfassung verabschiedet.
Recep Tayyip Erdogan war schon seit einem Jahrzehnt der Ministerpräsident der Türkei, aber seitdem er der erste öffentlich gewählte Präsident des Landes wurde, hat er deutlich zu verstehen gegeben, dass er in seiner neuen Rolle diejenige sieht, die zählt. Anfang des Jahres 2015 führte er den Vorsitz bei einer Kabinettssitzung. Das war eine Machtdemonstration. Wenngleich er von der Verfassung dazu berechtigt ist, so haben doch vorangegangene Präsidenten von diesem Recht nur in Krisenzeiten Gebrauch gemacht. Recep Tayyip Erdogan versteht seine direkte Wahl durch das Volk als ein Signal dafür, dass der Präsident und nicht der Ministerpräsident der Chef der Exekutive ist. Herr Erdogan wird sich darum bemühen, seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) eine Zweidrittelmehrheit in den Parlamentswahlen im Juni 2015 zu sichern. Dies würde ihm die Möglichkeit geben, eine neue Verfassung zu verabschieden. Auf diesem Wege könnte er die Machtbefugnisse des Präsidenten so stärken, wie er es wünscht.
Erdogans Aufstieg zur Macht
• Recep Tayyip Erdogan wurde im Jahr 1954 geboren. Sein Vater arbeitete bei der Küstenwache in der Stadt Rize am Schwarzen Meer. Im Jahr 1967 zog seine Familie nach Istanbul um
• Biographen sagen, er habe Brötchen und Limonade verkauft, um etwas zu seiner religiösen Ausbildung beisteuern zu können
• Während seines Management-Studiums an der Marmara Universität der Stadt, traf er Necmettin Erbakan, der später der erste islamische Ministerpräsident der Türkei wurde
• Während seiner Zeit an der Universität spielte er semiprofessionell Fußball
• Herr Erdogan begann seine politische Karriere in der Islamistischen Wohlfahrtspartei. Im Jahr 1994 wurde er Oberbürgermeister von Istanbul
• Im Jahr 1998 verbrachte Erdogan vier Monate im Gefängnis und wurde zu Politikverbot verurteilt. Er war für schuldig befunden worden, religiösen Hass anzustacheln, nachdem er ein religiöses Gedicht in der Öffentlichkeit zitiert hatte
• Vier Jahre später errang seine AKP einen überragenden Wahlsieg bei den Parlamentswahlen, zu diesem Zeitpunkt konnte er aber aufgrund des bestehenden Politikverbots nicht das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen
• Das Gesetz wurde schnell geändert. Erdogan wurde Parlamentsabgeordneter und – innerhalb von Tagen – Ministerpräsident
• Herr Erdogan hat anschließend zwei weitere Wahlen gewonnen, in den Jahren 2007 und 2011
• Er ist ein lautstarker Gegner Israels – ehemals ein enger Verbündeter der Türkei – und unterstützt die syrischen Oppositionellen bei ihrem Aufstand gegen Präsident Bashar al-Assad
Die Rolle des Islam
Seine Wahl im August 2014 markiert eine tiefgreifende Veränderung im Staat. Er verkündete bereits vor den Wahlen, dass er eine ‘Neue Türkei’ schaffen würde. Seit dem Sieg der von ihm gegründeten AKP bei den Parlamentswahlen im Juni 2011, zeigte er nach und nach auf, wie diese ‘Neue Türkei’ aussehen wird:
· Sie ist nach außen hin islamisch. Herr Erdogan hat in zahlreichen Reden eine konservative Sichtweise der türkischen Familie propagiert. Das Verbot des Kopftuches an öffentlichen Plätzen wurde aufgehoben, und Frauen werden nun genötigt, ein ‘islamisches’ Verhalten zu zeigen. Der Verkauf sowie der Konsum von Alkohol werden eingeschränkt. Eine große neue Moschee am Ostufer des Bosporus soll die Rolle des Islam in der Türkei demonstrieren.
Heiße Themen der Außenpolitik
· Sie sieht sich selbst in der Nachfolge des Osmanischen Reiches. Die Geschichte der großen Sultane wird in den Medien präsentiert und die Geschichtslehrpläne wurden dementsprechend geändert. Die ‘Osmanische’ (arabische) Schrift wird zunehmend an den Schulen unterrichtet. Mit dem riesigen Wohnsitz des Präsidenten, den Herr Erdogan im Oktober 2014 einweihte, wird beabsichtigt die Paläste der Seldschuken-Dynastie des 11. bis 14. Jahrhunderts ins Gedächtnis zurückzurufen.
· Die Türkei wird die führende Macht unter den islamischen Staaten des Nahen Ostens werden. Die Perspektive, dass die Türkei der Europäischen Union beitritt, hat an Attraktivität verloren. Die Frage Palästinas und die Beziehungen zu Israel werden zu heißen Themen der türkischen Außen- politik.
· Die Türkei wird die zehntgrößte Wirtschaftsmacht der Welt werden. Eine Reihe von Großprojekten ist dazu gedacht, dies zu demonstrieren. Diese Projekte schließen den neuen Hauptflughafen von Istanbul, der gemäß den Plänen der weltweit größte Flughafen werden soll, eine dritte Brücke über den Bosporus sowie eine neue Wasserstraße parallel zum Bosporus ein.
Autokratische Herrschaft
Das Projekt ‘Neue Türkei’ soll bis 2023 abgeschlossen sein, dem Jahr, in dem die Republik Türkei ihren 100. Geburtstag feiert. Herr Erdogan tritt in die reformerischen Fußstapfen des Gründers der Nation, Kemal Atatürk. Er beabsichtigt das, was als säkularer Nationalstaat begonnen hat, in politischer, sozialer und kultureller Hinsicht in einen islamischen Staat zu transformieren. Das Gesicht der ‘Neuen Türkei’ wird sich von dem der kemalistischen Republik unterscheiden, allerdings wird in einem Schlüsselaspekt des politischen Systems nach Kontinuität gesucht. Es ist die zentrale Rolle des Staates und ihre Dominanz über die Gesellschaft. Ebenso wie Atatürk identifiziert sich Herr Erdogan mit ‘dem Staat’. Über die Opposition wird sich hinweggesetzt und andere Auffassungen werden als Versuche angesehen, den ‘Staat’ zu schwächen. Er glaubt, dass ihn die Ergebnisse der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen dazu ermächtigt haben, im ‘Namen des Volkes’ zu sprechen, was den Beginn einer Verschiebung hin zu einer autokratischen Herrschaftsform kennzeichnet.
Islamische Sitten
Die politischen Entwicklungen in der Türkei sind seit 2013 durch die wachsenden Spannungen zwischen denjenigen, die Herrn Erdogan gegenüber loyal eingestellt sind, und der Opposition gekennzeichnet.
Die Proteste begannen im Mai 2013 im Gezi Park im europäisierten Beyoglu Viertel Istanbuls. Sie wurden durch die Entscheidung der Stadtverwaltung ausgelöst, umfassende Bauarbeiten durchzuführen, die den Charakter des Viertels tiefgreifend verändert hätten. Die Öffentlichkeit wurde zu diesem Vorhaben nicht befragt.
Die lokalen Proteste dehnten sich auf andere Städte aus. Sie zielten auf den autokratischen Regierungsstil des Ministerpräsidenten und der führenden Personen der AKP ab, aber vor allem ging es gegen die Einmischung von Herrn Erdogan in den Lebensstil eines Teils der Gesellschaft, der nicht bereit ist, sich den islamischen Sitten zu beugen, die der Präsident öffentlich proklamiert. Sicherheitskräfte gingen hart gegen die Demonstranten vor und der Präsident machte eine ausländische Verschwörung für die Unruhen verantwortlich. Nur ganz allmählich offenbarte die Regierung, dass sie glaubte, bei den Protesten handle es sich um eine Verschwörung der religiösen Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen.
Ehemaliger Verbündeter
Der Volksislam hat eine jahrhundertlange Tradition in Anatolien, das den größten Teil der modernen Türkei umfasst. Als die AKP 2002 an die Macht kam, war Herr Gülen eine populäre Figur in einigen Teilen der Gesellschaft.
Die Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wurde, basierte nicht zuletzt auf seinem Engagement im Bildungsbereich. In den frühen Jahren der Herrschaft von Herrn Erdogan war die Gülen-Bewegung ein willkommener Verbündeter der AKP im Kampf gegen die Justiz und das Militär, die von den Kemalisten beherrscht wurden.
Im Anschluss an den Wahlsieg im Juni 2011 wurde die Gülen-Bewegung zu einem potentiellen Rivalen um die Macht. Daher entschied sich Herr Erdogan dazu, die Verbindungen zu seinem früheren Verbündeten, der sich jetzt im selbstgewählten Exil in den Vereinigten Staaten befindet, abzubrechen.
Aufzeichnungen von Telefongesprächen, die angeblich schwere Korruptionsfälle von AKP Politikern offenbaren, sickerten im Dezember 2013 durch. In die Fälle sollen nicht nur mehrere Minister verwickelt sein, sondern auch Herr Erdogan selbst.
Unterdrückung der Presse
Bei den Durchsuchungsaktionen fand die Polizei belastendes Material bei den Verdächtigen. Der Ministerpräsident und die regierungstreue Presse brandmarkten das Ganze als einen versuchten Staatsstreich. Anstelle von Untersuchungen war eine breitangelegte Unterdrückung angesagt.
Hunderte von Staatsanwälten sowie weiteres Gerichtspersonal und Mitarbeiter der inneren Sicherheit wurden versetzt oder ihres Amtes enthoben. Die Regierung bemühte sich darum zu verhindern, dass über das Thema in der Presse und den sozialen Medien berichtet wurde. Vier Minister traten zunächst zurück, wurden dann jedoch im Laufe des Jahres 2014 rehabilitiert. Im Januar 2015 entschied das Parlament sie nicht vor Gericht zu stellen. Herr Erdogan bekundete unermüdlich seine Version der Ereignisse und behauptete, dass der Skandal durch feindliche und missgünstige Kräfte von außerhalb eingefädelt worden war. Seiner Aussage nach beabsichtigten diese Kräfte die türkische Nation zu behindern, die sich als ein islamisches Land auf dem Weg hin zu künftiger Größe als ‘Neue Türkei’ befindet.
Neue Verfassung
Das Land gibt zurzeit ein widersprüchliches Bild ab. Einerseits unterstützt noch mindestens die Hälfte der Bevölkerung Herrn Erdogan. Seine Herrschaft hat tatsächlich bei vielen Bürgern zu einer Steigerung des Selbstbewusstseins geführt. Ihre Lebensbedingungen haben sich in materieller Hinsicht verbessert, was sie ihrem neuen Präsidenten zugute halten.
Das Ergebnis der Wahlen im Jahr 2014 war nochmals ein Beweis für diese Solidarität. Herr Erdogan wird sich in den kommenden Monaten alle Mühe geben, um sicherzustellen, dass er seine Position auf dem Wege einer neuen Verfassung zementieren kann. Damit hätte er die Chance, die ‘Neue Türkei’ bei der Jahrhundertfeier der Republik zu repräsentieren.
Andererseits sind aber auch Zeichen der Instabilität weit verbreitet. Die Eskalation, wenn es um das harte Durchgreifen bei den Protesten geht, kennzeichnete eher den Beginn des Konflikts mit der Gülen-Bewegung und der politischen Opposition, als dass es das Ende bedeutet hätte. Wird die AKP die Korruptionsangelegenheit weiterverfolgen? Bei der Abstimmung im Januar 2015, bei der es darum ging, ob die vier Minister inhaftiert werden sollten, scherten ungefähr 30 Abgeordnete der Regierungspartei aus.
Die Kurdenfrage ist so offen wie eh und je. Der Friedensprozess zwischen der Regierung und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die einen bewaffneten Kampf für einen unabhängigen kurdischen Staat innerhalb der Türkei führt, ist ins Stocken geraten.
Wachsendes Risiko
Beide Seiten sind zutiefst misstrauisch, was die Absichten des anderen anbelangt – und dies ganz besonders, nachdem die Regierung sich weigerte, den belagerten Kurden in der syrischen Stadt Kobani zu helfen.
Die Konflikte im benachbarten Syrien und die dortige Anwesenheit des islamischen ‘Kalifates’ machen sich zunehmend in der Türkei bemerkbar. Die Tatsache, dass 1,5 Millionen Flüchtlingen etwas zuteil wurde, was Herr Erdogan als ‘Gastfreundschaft’ beschreibt, hat in Teilen der Bevölkerung zu Besorgnis und Wut geführt. Es besteht ein wachsendes Risiko, dass der Konflikt innerhalb der syrischen Gesellschaft in die Türkei hineingetragen wird, einschließlich der Gefahr von Terroranschlägen.
Was wird geschehen, wenn Herr Erdogan sein Projekt einer neuen Verfassung, die seine Position als Präsident der ‘Neuen Türkei’ festigt, nicht realisieren kann? Den Oppositionsparteien ist es bislang noch nicht gelungen, von den sozialen Spannungen zu profitieren. Könnte es zu Spaltungen innerhalb der AKP kommen?
Wirtschaftliche Situation
Vieles wird von der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei abhängen, da sich die Stabilität des ‘Erdogan Systems’ in hohem Maße auf die Stärke der Wirtschaft stützt.
Der niedrige Ölpreis verbessert derzeit die Zahlungsbilanz. Allerdings sind die Importe des Landes nach wie vor höher als die Exporte und die türkischen Produkte sind nur in begrenztem Umfang wettbewerbsfähig. Außerdem sind einige Märkte im Nahen Osten zusammen- gebrochen. Die Auslandsinvestitionen gehen bereits zu- rück. Dies ist ein Trend, der sich durch anhaltende politi- sche Instabilität und Rechtsunsicherheit noch verschärfen wird. Die Anstrengungen der Regierung und von Herrn Erdogan selbst, die Entscheidungen der Zentralbank zu beeinflussen, sind in dieser Hinsicht kein gutes Zeichen. Sollte sich die Wirtschaftslage verschlechtern, so hätte dies negative Auswirkungen auf die Unterstützung, die der Präsident derzeit genießt. Die Frage wäre dann, ob es zu einer Veränderung innerhalb des Parteiensystems käme, oder ob die Unruhen auf den Straßen zunehmen würden.
Dieser Bericht wurde von Prof. Dr. Udo Steinbach verfaßt und wird unseren Mitgliedern mit freundlicher Genehmigung von © Geopolitical Information Service AG, Vaduz zur Verfügung gestellt:
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